Forensische Psychiatrie interdisziplinär. Manuela Dudeck

Forensische Psychiatrie interdisziplinär - Manuela Dudeck


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er zwei Grundsätze (Rawls 1979):

      1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.

      2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheitensind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen.

      Die Diskurstheorien, die u. a. von Jürgen Habermas (*1929) entwickelt und vertreten wurden, wollen das Gute bzw. das Richtige nicht inhaltlich bestimmen, sondern basieren auf der Annahme, dass in einem idealen Diskurs das moralisch Richtige konsensuell gefunden wird. Für diesen Diskurs sind universalistisch begründete normative Voraussetzungen der Diskursteilnehmer und Verfahrensweisen definiert. Dazu gehören z. B. der Verzicht auf Herrschafts- und Autoritätsansprüche, die Beschränkung der Einflussnahme auf die Darlegung von Argumenten, die Verständigungsbereitschaft und Informiertheit der Teilnehmer, die in der Lage und bereit sein müssen, alle vorgetragenen Argumente und Optionen zu verstehen (Montada 2002).

      Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass moralische Systeme ineinandergreifende Zusammenstellungen von Werten, Tugenden, Normen, Gebräuchen, Identitäten, Institutionen, Technologien und entwickelten psychischen Mechanismen sind. Diese wirken zusammen, um Selbstsucht zu unterdrücken oder zu regulieren und soziales Leben zu ermöglichen (Haidt 2010). Trotz einiger kultureller Unterschiede haben diese wohl universellen Charakter und sind in folgende Moralmodule einteilbar (Haidt & Joseph 2004):

      • Leiden (Es ist gut, anderen zu helfen und ihnen nicht zu schaden)

      • Gegenseitigkeit (dieses führt zu einem Sinn für Fairness)

      • Rangordnung (Respekt vor Älteren und legitimen Autoritätspersonen)

      • Bündnisse (Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe)

      • Reinheit (Lob der Sauberkeit, Vermeidung von Verunreinigung).

      Bezogen darauf handelt nur der Mensch moralisch, welcher Werte und moralische Normen als wichtige Facetten seines Selbstbildes erworben hat und sich dazu emotional verhalten kann. Erst dann werden diese handlungsleitend. Damit ist moralisches Engagement auch im Längsschnitt des Lebens verlässlich, wenn es der persönlichen Identität entspricht, und kann kontextabhängig eingesetzt werden (Montada 2002).

      Die Hauptaufgabe der Rechtsphilosophie ist die Klärung, was das Recht eigentlich ist, und hat ihre Anfänge in der Antike. Seitdem stehen sich zwei große Denkrichtungen, die die Voraussetzungen für eine Rechtsordnung definieren, gegenüber. Die Naturrechtstheorie geht von der Existenz eines von menschlichen Interessen und Idealen vorgegebenen, absolut geltenden Sittengesetzes aus (image Kap. 2.4.1). Die zweite Richtung, und zwar die des Rechtspositivismus, betrachtet Rechtsnorm und Rechtsordnung primär als empirische Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit. Dabei nehmen die Vertreter dieser Richtung eine begriffliche Trennung zwischen Recht und Moral vor. Ob eine bestimmte Norm mit gewissen moralischen Anforderungen übereinstimmt, erscheint ihnen für ihren Rechtscharakter unerheblich (Hoerster 2016). Wenn man allerdings Recht und Moral nicht miteinander in Beziehung setzen möchte, muss man sich als Rechtspositivist mit Begriffen wie Macht, Zwang und Gewalt auseinandersetzen, wobei innerhalb der Denkrichtung keine Einigkeit besteht. Drei Hauptvertreter dieser Richtung sind John Austin (1790–1859), Hans Kelsen (1881–1973) und H.L.A. Hart (*1907). Allen dreien gemeinsam war die Idee, zu der naturrechtlich-moralbehafteten Konzeption des Rechtsbegriffs eine konstruktive Alternative auszuarbeiten. Bei John Austin nahm der Begriff des Befehls in der Analyse des Rechtsbegriffs eine zentrale Rolle ein. Für ihn sind alle Rechtsnormen Befehle eines politischen Souveräns und Befehle sind mit einer Übelandrohung verbundene Willensäußerungen. Da unklar blieb, wie aus einem Befehl als eine rechtliche Verbindlichkeit ein Sollen abzuleiten ist, modifizierte Hans Kelsen die Befehlstheorie. Er schlussfolgerte, dass die Gültigkeit oder Verbindlichkeit einer Norm durch nichts anderes als eine weitere, höherrangige Norm begründet werden kann. So kam er zu dem Ergebnis einer höchsten, hierarchisch aufgebauten Rechtsordnung, die als ganze legitimierende Grundnorm gelten kann. Allerdings ist in seinem Denkmodell der Zwang zur Charakterisierung des Rechts nicht weniger wichtig. Hier richten sich die einzelnen Rechtsnormen nicht allgemein an den Bürger (indem sie ihm unter Androhung eines Zwangsaktes ein bestimmtes Verhalten abverlangen), sondern an die staatliche Amtsperson (indem sie ihr zum Vollzug eines Zwangsaktes ein Gebot oder eine Ermächtigung erteilen). H.L.A. Hart führt dazu aus, dass sich eine Rechtsordnung im Normalfall nur als System von zwei sehr unterschiedlichen Typen von Normen adäquat verstehen lässt. Es gibt für ihn die primären Normen, die jemanden zu etwas verpflichten und die sekundären Normen, die jemanden zu etwas Befugnis verleihen. An der Spitze steht in diesem System immer eine sekundäre Norm, die ein bestimmtes Organ zum Erlass weiterer Normen befugt oder ermächtigt. Diese höchste Norm einer Rechtsordnung gilt jedoch nicht Kraft einer vorausgesetzten Grundnorm wie bei John Austin, sondern einfach aus dem Grund, weil sie de facto innerhalb der betreffenden Gesellschaft von den Amtspersonen zur Regelung des Rechtslebens akzeptiert wird (Hoerster 2016).

      2.6 Die Entwicklung und Funktion von strafrechtlicher Gesetzgebung

      Auf die zuvor dargelegten religiösen und moralischen Vorstellungen über das Zusammenleben von Menschen hat sich geopolitisch verschieden die Gesetzgebung als weiteres Regulativ für menschliches Verhalten entwickelt. Die strafrechtliche Rechtsgeschichte in Deutschland nahm ihren Anfang im germanischen Strafrecht und war im eigentlichen Sinn ein Privatstrafrecht und ein Stammesrecht. Germanische Stammesrechte sind Rechtsaufzeichnungen in den germanischen Nachfolgereichen des Römischen Reiches von der Mitte des 5. Jahrhunderts bis ins 9. Jahrhundert. In den Germanischen Stammesrechten verschmolzen mit wechselndem Gewicht germanische, römische und christliche Rechtsvorstellungen, die auf moralischen Ansichten dieser Zeit basierten. Die Verschriftlichung dieser Gesetze war lückenhaft und hatte keine ubiquitäre Gültigkeit. Bis in das Mittelalter hinein bestimmten Fehden und Selbstjustiz die rechtliche Situation, Leibesstrafen und Folter waren zentrale Bestrafungsmöglichkeiten (image Kap. 4.4).

      Mit dem Sachsenspiegel entstand zwischen 1220 und 1235 das sowohl älteste als auch bedeutendste Rechtsbuch des Mittelalters durch Eike (1180–1232). Auch dieser war eine private Rechtssammlung und stellte eine erste Grundlage für ein Strafrechtssystem, allerdings ohne Rechtsvereinheitlichung, dar.

      Diese Situation änderte sich im 13. Jahrhundert mit der Rezeption des römischen Rechts. Dieses war systematisch geordnet und verwirklichte erstmals eine Rechtssicherheit. Rechte und Pflichten waren jedem Bürger bekannt und für alle gleich. Die Dinge waren klar geregelt, vorhersehbar und die Rechtsnormen von einer Beständigkeit, auf die sich der Bürger verlassen konnte. Hierdurch inspiriert entstand 1532 unter der Schirmherrschaft von Kaiser Karl V. die »Constitutio Criminalis Carolina« als erstes einheitliches Gesetzbuch auf dem Gebiet des Strafrechts für das Heilige Römische Reich deutscher Nation. In diesem Gesetzbuch wurden das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht gemeinsam geregelt. Wie weit dieses Recht von christlichen Anschauungen aber noch beeinflusst war, ist eindrücklich an der Rechtsgrundlage für die Hexenverfolgung zu sehen, die zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erreichte und zuvor getroffene Regelungen moralisch deutlich abschwächte.

      Erst Friedrich II. schaffte 1740 die Folter als Strafe endgültig ab und zeigte einen unverkennbar menschlicheren Zugang in der Bestrafung auf. Deshalb sprechen Rechtsphilosophen an dieser Stelle von »einer Humanisierung des Strafrechts«, die sich aus der Entwicklung der Aufklärung ergeben hat.

      Für die weitere Ausformung und Gestaltung des Strafrechts war der Jurist Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833) von außerordentlicher Bedeutung. Grundlage seines Strafrechtsverständnisses war die Theorie der präventiven Wirkung von Strafe. Daraus ergab sich die


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