Schmerz. Isy

Schmerz - Isy


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Meine Eltern hatten sich schon wieder abgewendet, um sich im neusten Otto-Katalog die Sommermode anzusehen. Seufzend räumte ich ab und ging in mein Zimmer, um meine Tasche zu packen. Mein Zimmer war ziemlich farbenfroh eingerichtet, aber am besten gefiel mir meine Erinnerungswand. Die Idee hatte ich aus irgendeinem Buch und sofort in die Tat umgesetzt. Wenn mir jemand eine Postkarte schickte oder irgendwas bastelte, hängte ich es an die Wand. In dem halben Jahr, das es die Wand nun schon gab, ist sie zu einem bunten Mosaik geworden, doch in der Mitte thronte die Riesenfotocollage, die mir Alice nachträglich zum Zweijährigen geschenkt hatte. Sie war mein ganzer Stolz, da sie die schönsten, chaotischsten und bedeutendsten Momente unsere Freundschaft festhielt. Ich musste daran denken, wie sie mir die Collage überreicht hatte und wie ich vor Freude tatsächlich angefangen hatte zu heulen. Alice war so anders als ich, so cool und voller Leben, dass ich es nach zwei Jahren immer noch nicht hatte glauben können, dass dieses Mädchen ausgerechnet MICH als beste Freundin ausgewählt hatte. Doch mit dem Überreichen dieser Collage waren die Zweifel vollends verschwunden. Ja, das damals war ein definitiv guter Tag gewesen und heute würde eine wundervolle Erinnerung hinzukommen, da war ich mir sicher.

      Überraschend pünktlich hörte ich kurz nach 12 Uhr Alice’ Roller in unsere Straße rattern und schnappte mir meine Tasche, während ich mich von meinen Ellis verabschiedete. „Ciao ihr beiden, bis morgen und genießt den Sommertag!“, rief ich, während ich schon längst aus der Tür spazierte, so begierig darauf, endlich mit dem perfekten Sommer zu beginnen. Ich freute mich schon seit Wochen auf den heutigen Tag, da ich nach unserem Ausflug bei Alice übernachten würde, und unsere Übernachtungen hatten es echt in sich. Ihre Eltern waren heut nicht da, ihre beiden Geschwister waren okay und alles in allem freute ich mich wahnsinnig auf die Lachanfälle, die Endlosunterhaltungen und die Filme. „Hey Maya. Na, bereit?“, empfing sie mich mit demselben strahlenden Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sie sich über irgendetwas riesig freute. Genau so strahlend fiel ich ihr um den Hals und drückte ihr erst mal zwei Bussis auf die Wangen. Doch nach der anfänglichen Freude musterte ich wie immer voller Zweifel ihren fahrenden Untersatz, den sie mir allen Ernstes als Roller verkaufen wollte. Für mich war diese Maschine immer noch tödlich, doch hatte ich genauso wenig Lust, mit meinem Fahrrad neben ihr herzufahren, also nahm ich seufzend ihren Beifahrerhelm entgegen, den sie mir nun mit selbstsicherem Gesichtsausdruck hinhielt. Sie wusste, was mir grade durch den Kopf ging, hatte es aber aufgegeben, mir ins Gewissen zu reden, und nahm es jedes Mal wieder mit demselben spöttischen Blick in Kauf, dass ich in Gedanken abwog, ob es nicht sicherer wäre, zu radeln. „Wehe, du rast so wie letztes Mal! Ich wär vor Schreck fast vom Sitz gefallen!“, grummelte ich, während ich mich hinter sie setzte und mich an ihr festklammerte. Anstatt einer Antwort bekam ich nur schallendes, unbeschwertes Gelächter zurück, von dem sie wusste, dass ich automatisch einstimmen würde. Und so war es tatsächlich. Als wir beide synchron lachen mussten, wegen eigentlich nichts und wieder nichts, lösten sich meine Zweifel in Luft auf und die Vorfreude kam zurück. „Na dann mal los, du Rennfahrerin. Ich nehm an, wir treffen Marlon auch noch irgendwo?“, fragte ich in lockerem Ton, doch eigentlich kannte ich die Antwort bereits. Sie drehte sich um, mit diesem verdammten Hundeblick, den sie drauf hatte wie sonst niemand und bei dem ich immer und immer wieder schwach wurde. Dieser Blick sagte mehr als tausend Worte. Doch trotz meiner Mädelstag-Erwartung konnte ich ihr noch nicht mal böse sein. Sie war verliebt und so überglücklich, dass sie von innen zu leuchten schien. Wie hätte ich meiner besten Freundin dieses Glück verderben können? Also seufzte ich abermals, und sie nahm dieses ergebene Seufzen als Startsignal und startete das Ungetüm. Ich würde wohl nie verstehen, warum es ihr so viel Spaß machte, mit dem Ding durch die Gegend zu fahren. Als wir auf einer geraden Landstraße fuhren, löste ich meinen Klammergriff um Alice’ Hüften und richtete mich auf. Und während ich ihr Lachen spürte – sie freute sich immer enorm, wenn ich mich beim Rollerfahren entspannen konnte, das sah sie als Beweis ihrer Fahrkünste –, dachte ich daran, wie aus einer anfänglichen Busbekanntschaft schließlich beste Freundinnen geworden waren …

       Jene schicksalhafte Nacht, die unsere Freundschaft besiegelte, werde ich wohl nie vergessen. Es war Halloween. Halloween hatte in meinem Leben nie einen besonderen Stellenwert eingenommen, aber mit Alice hatte sich schließlich auch alles andere darin geändert. Als eher dunkler Kleidungstyp mit einer Vorliebe für Horrorfilme und düstere Musik war die Nacht wohl das reinste Paradies für sie. Schließlich durfte sie sich vollends in ihrer Schwärze ausleben, ohne dass es jemandem komisch vorgekommen wäre. Auf jeden Fall war es die Nacht, die alles veränderte. Denn eigentlich wollten Alice und ich an Halloween gemeinsam Süßigkeiten jagen gehen. Ich hatte mich Ewigkeiten drauf gefreut, ganze vierundzwanzig Stunden mit dieser coolen Freundin verbringen zu dürfen, doch es kam alles ganz anders. Denn nachdem mich meine Eltern bei ihr abgesetzt hatten, eröffnete sie mir, dass wir zuhause bleiben würden und nur Filme ansehen würden. Ich dachte mir nichts dabei, schließlich war auch das sehr schön. Doch nach dem zweiten Horrorfilm (Gott, wie ich diese Filme verabscheue!) holte sich Alice plötzlich ein Bier aus der Küche. Ich schwieg, lehnte dankend ab. Aus einem wurden schnell vier, und so kam es, dass ich an jenem Halloween zum ersten Mal meiner besten Freundin die Haare hielt, als diese kotzend über dem Klo hing. Später bedankte und entschuldigte sie sich wortreich dafür. Und ab dieser Nacht waren wir beste Freundinnen – wohl aus dem einfachen Grund, dass so was zusammenschweißt. All die Jahre suchte ich eine beste Freundin, die mich verstand und mich so akzeptierte, wie ich war. Mit der ich tausend lustige Sachen unternehmen konnte und mit der ich lachen würde bis zum Umfallen. Eine Freundin, die meine Tränen nicht nur sah, sondern auch wegwischte und alles dafür tat, dass es nie wieder so weit kam. All die Jahre hatte ich so eine Freundschaft gesucht und nun schien es so, als ob ich sie gefunden hätte. Als ob dieser kleine „Kotzabend“ der Beginn einer unsterblichen Freundschaft gewesen wäre. Denn nichts und niemand würde uns je trennen können – da war ich mir sicher.

       Damals hatte ich ja keine Ahnung, dass das Schicksal den letzten Satz viel zu wörtlich nehmen würde

      Wir fuhren tatsächlich zur Donau und natürlich wartete Marlon schon auf uns. Ich bildete mir ein, dass Alice, sobald sie ihn sah, sogar noch ein bisschen schneller fuhr, so als könnte sie es gar nicht erwarten, endlich ihren Liebsten wiederzusehen. Selbst auf die Entfernung von zweihundert Metern konnte man das wahnsinnige Lächeln auf Marlons Gesicht erkenne. Ich kannte kein einziges Liebespaar, das sich gegenseitig so sehr vergötterte und die Blicke gar nicht mehr voneinander lassen konnte, wie die beiden es taten. Seufzend erkannte ich, dass es ein sehr ruhiger Tag werden würde, mit Livegeschmuse hoch zehn. Ich hasste nichts so sehr wie Livegeschmuse. Gott sei Dank hatte ich das vorhergesehen und mir ein schönes Buch mitgenommen. Damit würde es wohl gehen. Kaum stand der Roller, zog sich Alice den Helm vom Kopf, sprang ab und stürmte in Marlons wartende Arme, um sich einem Kuss hinzugeben, der hollywoodreif gewesen wäre, wenn im Hintergrund noch Musik gespielt hätte. Kopfschüttelnd schaltete ich das Monster aus und zerrte mir ebenfalls den Helm vom Kopf, nur um danach festzustellen, dass die beiden Turteltäubchen schon weiter zur vorbereiteten Picknickdecke gegangen waren und sich dabei so eng umschlungen hielten, dass kein Blatt mehr dazwischen gepasst hätte. Doch es störte mich immer noch nicht, denn schließlich hatte ich noch die ganze Nacht, um mit Alice zu reden. Und wir mussten reden, das war so klar wie der Himmel über uns. Schließlich mussten wir uns einen Schlachtplan überlegen, wegen der Sommerparty bei David. Beim Gedanken an den großen, schwarzhaarigen David mit den schönsten Augen und der tiefsten Stimme der Welt, ging es mir sofort besser und ich gönnte es den beiden richtig, dass sie ihre Liebe schon hatten. Noch glücklicher wurde ich, als ich sah, dass Marlon seinen weltberühmten Schokokuchen gemacht hatte und mir ein extragroßes Stück schon abgeschnitten und auf nen Plastikteller gelegt hatte. „Hey ihr zwei, ich will ja nur ungern stören, aber ich wollt erst mal Hallo sagen und mich für den Kuchen bedanken, bevor ihr euch die Klamotten vom Leib reißt!“, murrte ich etwas zu scharf. Die beiden sahen auf und ich bildete mir ein, dass sich ein Hauch von Ärger auf Alice’ Gesicht legte. Doch freundlich wie immer, wenn Marlon in der Nähe war, lächelte sie mich an, während Marlon aufstand, um mich in eine Begrüßungsumarmung zu zerren, die selbst mich vom Boden hob. Kichernd und kreischend wie ein kleines Mädchen bat ich ihn schließlich, mich runterzulassen, und auch Alice meinte, dass er ihre beste Freundin bitte am Leben lassen sollte, da sie mich noch brauchte. Ich grinste. Natürlich wollte sie Marlon wiederhaben, schließlich


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