Schmerz. Isy
etwas abseits zur Sonne ausgerichtet hin, um schon jetzt mit dem Braunwerden zu beginnen. Nachdem der Kuchen mit ein paar schnellen Bissen verzehrt war, kramte ich mein Handy aus der Tasche, steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und ließ mich von den aktuellen Charts berieseln, während ich langsam wegdämmerte.
Wie so oft in letzter Zeit träumte ich von David. In manchen Träumen redetet wir einfach nur, doch in anderen dauerte es keine fünf Minuten und wir rissen und die Kleidung vom Leib. Doch in diesem Traum wirkte er anders als sonst. Nicht verführerisch, nicht süß und auch nicht nett oder sexy, nein, er wirkte furchtbar besorgt und dann unendlich traurig. Es schien, als ob er mir irgendetwas mitteilen wollte, doch ich konnte ihn nicht verstehen. Es war, als ob ich in einem Käfig aus Glas sitzen würde. Ich sah seine vom Schmerz verzerrten Gesichtszüge und wie er immer und immer wieder versuchte zu mir zu gelangen, doch nicht mal seine Worte erreichten mich. Der Traum schockierte mich und dieser Eindruck wurde noch dadurch bestärkt, dass ich plötzlich hohe und doch tonlose Schreie hörte. Mir stellten sich sämtliche Nackenhaare auf. Wie sehr musste man einen Menschen foltern, bevor er solche Laute von sich gab? Welche Schmerzen musste dieser Mensch erleiden?! Ich schaute mich panisch um, suchte den Gequälten und bemerkte das Gesicht eines fremden Mädchens, direkt gegenüber. Ich schauderte. Ihre Augen waren leer, leblos und wirkten, als ob jede Freude aus ihrem Leben gewichen wäre. Als mein Blick auf ihren vor Schmerz geöffnet Mund fiel, hörte das Schreien augenblicklich auf. Ich erstarrte vollends. Dieser Mund … ich kannte ihn. Kannte die Bewegung, wenn er sich zu einem Lächeln verzog, kannte das Gefühl der ständig rauen Lippen … es war meiner. Ich war die gequälte Fremde. Doch warum? David sah mich mitleidig an und öffnete abermals den Mund, um mir zu erklären, was hier vor sich ging. „Maya? Maya wach auf, komm schon!“, rief er laut, doch die Stimme erschien mir nicht richtig. „Wir sollten sie in den Fluss werfen, dann wacht sie auf“, rief eine andere Stimme munter, bei deren Klang mein Spiegelbild gequält das Gesicht verzog. Und bevor ich mich darüber wundern konnte, spürte ich die eisigen Pfeilspitzen von zu kaltem Wasser und schlug prustend die Augen auf. „Man, tickt ihr noch ganz richtig? Ich könnte ertrinken wegen euch Vollidioten!“, schrie ich aufgebracht, musste aber sofort lachen, weil nun auch Marlon und Alice in die Donau sprangen und eine wilde Wasserschlacht begann.
Später lagen wir, müde aber entspannt, in der Sonne und hörten Musik. In dem Moment war ich einfach nur endlos glücklich. Da zerriss der schrille SMS-Ton meines Handys die Ruhe und Alice sprang auf, um als Erste die SMS zu lesen. In letzter Zeit war sie einfach viel zu neugierig. „Ist von deinen Ellis“, teilte sie mir mit, „sie sagen, dass wir so aussehen, als ob wir ne Stärkung gebrauchen könnten.“ Fragend sah sie mich an, doch ich konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Marlon war es, der das Auto meines Vaters entdeckte, das nicht weit von uns parkte. Ich war wohl zu sehr mit der Musik und die beiden andern zu sehr mit Knutschen beschäftigt gewesen, als dass wir meine Eltern bemerkt hätten, die nun mit Grill und Korb angelaufen kamen. „Hallo ihr Wasserratten“, rief mein Dad munter von Weitem, „kleine Stärkung gefällig?“ Begeistert sprangen wir auf, um ihnen beim Auspacken zu helfen, und mir fiel vor Überraschung die Kinnlade runter. Sie hatten echt an alles gedacht: Fleisch, Würstchen, Salate, Kartoffeln, Marshmallows und natürlich Getränke. Und als Nachtisch Mamas berühmter Grützekuchen, den Marlon sofort umschwärmte. Bereitwillig beantwortete Mama alle seine Fragen, während Dad den Grill anheizte und Alice versuchte, eine ebene Grasfläche in der Nähe des Autos zu trampeln, auf der wir essen konnten. Sie sah aus wie Rumpelstilzchen, so wie sie rumhüpfte und sich sichtlich anstrengte. Es sah so lustig aus, dass ich in schallendes Gelächter ausbrach, bevor ich mich zu ihr gesellte und wir beide unter Gekicher das Gras bearbeiteten.
Es wurde ein schöner Abend. Als es langsam dunkler wurde, meinten meine Eltern, dass wir nun zusammenpacken müssten, da sie nicht wollten, dass wir im Dunkeln nach Hause fuhren. Nachdem der Grill gelöscht, der Müll verräumt und alles eingepackt war, verabschiedeten wir uns. Ich ging mit meinen Eltern diskret zur Seite, als Alice und Marlon sich einem Abschiedskuss hingaben, der noch romantischer und wilder war als die üblichen Küsse. „Ich freu mich sehr für die beiden“, meinte meine Mama und umarmte mich zum Abschied. „Ich mich auch … aber ich bin froh, dass Alice und ich heut Nacht allein sind“, erwiderte ich grinsend. „Na dann viel Spaß und schlaft irgendwann ein bisschen“, antwortete mein Vater mit einem schelmischen Glitzern in den Augen, während er die Hand hob, um sich von den beiden Liebenden zu verabschieden. Als die beiden zum Abschied hupten und ich ihnen lächeln hinterherwinkte, winkten Alice und Marlon mit. „Du hast ja so ein Glück mit deinen Eltern, Maya“, murmelte Marlon, den Mund an Alice’ Hals verborgen. „Jap, ich weiß. Aber weißt du, was mein Glück perfekt machen würde? Wenn du meine beste Freundin endlich loslassen würdest, damit wir fahren können, es wird nämlich schon kalt“, gab ich schlagfertig zur Antwort und verdrehte die Augen, als sie sich ein letztes Mal küssten. Nach einer geschätzten Ewigkeit lösten sich die beiden voneinander, doch Marlon zog Alice noch mal ganz nah an sein Gesicht und flüsterte ihr irgendwas ins Ohr. Doch ich ignorierte es geflissentlich, schließlich würde ich auch nicht wollen, dass mir jemand bei irgendwelchen Liebesschwüren zuhört. Ich packte meine Tasche zusammen und setzte mir den Beifahrerhelm auf. Wenig später stieg auch Alice auf und automatisch krallte ich mich wieder fest. Mir war das Ding unter uns einfach nicht geheuer. Zum Abschied winkend und hupend fuhren wir auf die Hauptstraße und ließen Marlon und die Donau hinter uns.
Hätte Alice gewusst, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie ihren Marlon sah, sie wäre auf der Stelle umgedreht. Doch sie wusste es nicht … keiner von uns konnte ahnen, was passieren würde …
„Tut mir leid, dass Marlon und ich heut so rumgeknutscht haben. Muss hart für dich gewesen sein“, murmelte Alice um halb 2 morgens, als wir grade ins Bett gegangen waren. „Ne, passt schon. Ich freu mich echt tierisch für euch! Ich habe dir doch immer gesagt, dass er dich noch liebt!“, gab ich zur Antwort, während ich mir mein Schlaftop und Boxershorts anzog. „Ja, aber ich weiß doch, dass du nich’ so auf Romantik und Livegeschmuse stehst …“, bohrte Alice nach und musterte mich skeptisch. Ihre Beobachtungsgabe überraschte mich, schließlich hatte ich mich nie getraut ihr zusagen, dass es mich störte, wenn sie vor meinen Augen einem Typen die Zunge in den Hals schob. Seufzend gab ich mich geschlagen. „Ja okay, du hast ja recht. Es kotzt mich einfach nur dermaßen an … meine Eltern haben sich, du und Marlon habt euch und wen hab ich? David? Der sieht in mir sicherlich nur die beste Freundin … Das ist zwar schön und gut, aber trotzdem wünsch ich mir nichts sehnlicher, als endlich SEINE Freundin zu sein“, erklärte ich und sprach schnell weiter, als ich sah, dass sie etwas einzuwenden hatte: „Ich hab niemanden, der mich so ansieht, Alice. Ich hab niemand, der mich einfach mal anruft, um zu sagen: ‚Maya, ich liebe dich‘. Ich hab keinen, der mich küsst und bei dem ich mich geborgen fühlen kann … Ich hab meine Eltern und meine Freundinnen, aber sonst?! All das, was Marlon für dich ist, war Leo für mich … und hat es ausgenutzt, um mir so wehzutun. Hat mir nichts hinterlassen außer nem Haufen Selbstzweifel und Liebeskummer. Klar, ich bin total verliebt in David und alles, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je noch mal so etwas für jemanden empfinden werde wie für Leo.“ Ich stockte und sah sie an. Sie sah weder geschockt noch überrascht aus. Natürlich hatte sie es gemerkt. Hatte gemerkt, wie sehr ich die letzten Wochen gelitten hatte, ohne es offen zu zeigen. Ohne ein Wort zu sagen, rutschte Alice einfach nur näher an mich und nahm mich in den Arm. Da brach alles aus mir heraus. Ich weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören vor lauter Liebeskummer. Alice hielt mich die ganze Zeit einfach nur fest und sagte kein Wort, bis sie merkte, dass das Schluchzen aufhörte. Ich hatte noch nie in ihren Armen geweint. Schließlich erschienen meine Sorgen so unbedeutend wie die eines Kindes, neben denen der großen, schönen Alice. Während sie mir ein Taschentuch reichte und ich mir die Tränen von den Wangen wischte, musterte sie mich eindringlich und meinte schließlich: „Ich kann verstehen, dass du so denkst, aber es ist nich’ das Ende der Welt. Leo hat mit dir gespielt und dich echt verletzt, ja. Aber das ist kein Grund, der Liebe abzuschwören, denn zufällig erinnere ich mich an etwas, was du mir vor gar nicht allzu langer Zeit mal gesagt hast: Die Zeit wird alle Wunden heilen und die Liebe und das Leben werden weitergehen. Denk immer daran, wenn irgendwas schiefläuft in deinem Leben. Außerdem brauchst du gar keinen zum ‚Lieben‘! Du hast ja schließlich mich, oder?“ Das war gleichzeitig nett und doch herablassend gemeint