Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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      SEBASTIAN BARRY

      EIN VERBORGENES

       LEBEN

      Aus dem Englischen

       von Hans-Christian Oeser

      Roman

      Steidl Pocket

      Für Magaret Synge

      Die größte Unvollkommenheit ist in unserem inneren Sehvermögen, will sagen: dass wir für die eigenen Augen Geister sind.

      Thomas Browne, Christian Morals

      Wie wenige aus der Zahl derer, die Geschichte studieren oder sich zumindest damit beschäftigen, ziehen irgendwelchen Nutzen aus ihren Mühen! … Überdies gibt es selbst in den besten verbürgten alten oder modernen Darstellungen viel Ungewissheit; und diese Wahrheitsliebe, die einigen Gemütern angeboren und unwandelbar ist, führt notwendigerweise zu einer Vorliebe für geheime Lebenserinnerungen und persönliche kleine Erzählungen.

      Maria Edgeworth, Vorwort zu Castle Rackrent

      INHALT

       Cover

       Titel

       Erster Teil

       ERSTES KAPITEL

       ZWEITES KAPITEL

       DRITTES KAPITEL

       VIERTES KAPITEL

       FÜNFTES KAPITEL

       SECHSTES KAPITEL

       SIEBENTES KAPITEL

       ACHTES KAPITEL

       NEUNTES KAPITEL

       ZEHNTES KAPITEL

       ELFTES KAPITEL

       Zweiter Teil

       ZWÖLFTES KAPITEL

       DREIZEHNTES KAPITEL

       VIERZEHNTES KAPITEL

       FÜNFZEHNTES KAPITEL

       SECHZEHNTES KAPITEL

       SIEBZEHNTES KAPITEL

       Dritter Teil

       ACHTZEHNTES KAPITEL

       NEUNZEHNTES KAPITEL

       ZWANZIGSTES KAPITEL

       EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

       ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

       Chronologie der Ereignisse

       Über den Autor

       Impressum

Erster Teil

      ERSTES KAPITEL

       Roseannes Selbstzeugnis

       (Patientin, Roscommon Regional Mental Hospital, 1957–)

      Die Welt beginnt mit jeder Geburt von Neuem, sagte mein Vater immer. Er vergaß hinzuzufügen, dass sie mit jedem Tod endet. Oder hielt es nicht für nötig. Denn ein Gutteil seines Lebens hatte er auf einem Friedhof gearbeitet.

      Der Ort, an dem ich geboren wurde, war eine kalte Stadt. Selbst die Berge hielten sich abseits. Sie wussten nicht, was sie von jenem düsteren Flecken halten sollten, diese Berge, so wenig wie ich.

      Es gab da einen schwarzen Fluss, der sich durch die Stadt wälzte, und besaß er auch keinen Liebreiz für Menschen wie Sie und mich, so doch für die Schwäne; viele Schwäne suchten dort Zuflucht, und bei Hochwasser ritten sie den Fluss wie dahinjagende Bestien.

      Der Fluss beförderte auch den Unrat zum Meer und Dinge, die früher einmal Leuten gehört hatten und von den Ufern weggerissen worden waren, und, selten zwar, Leichen und, ach, mitunter arme Babys, für die man sich schämte. Schnelligkeit und Tiefe des Flusses leisteten gewiss so mancher Heimlichkeit Vorschub.

      Ich meine die Stadt Sligo.

      Sligo hat mich erschaffen, und Sligo hat mich zugrunde gerichtet, ich hätte eben auch viel früher darauf verzichten sollen, mich von Menschenstädten erschaffen oder zugrunde richten zu lassen, und mich lieber an mir selbst orientieren sollen. Meine Geschichte ist nur deshalb voller Schrecken und Schmerz, weil ich, als ich jung war, andere für die Urheber meines Glücks oder Unglücks hielt; ich wusste nicht, dass ein Mensch gegen die Gräuel, gegen die bösen, grausamen Tücken der Zeit, die auf uns einstürmen, eine Mauer aus imaginärem Mörtel und imaginären Ziegeln errichten und so Schöpfer seiner selbst sein kann.

      Jetzt bin ich aber nicht dort, jetzt bin ich in Roscommon. Es ist ein altes Gebäude, früher einmal eine Villa, heute dagegen nichts als cremefarbene Tünche, metallene Betten und Schlösser an den Türen. Das alles ist Dr. Grenes Reich. Dr. Grene ist ein Mann, den ich zwar nicht verstehe, vor dem ich aber auch keine Angst habe. Ich weiß nicht, welcher Konfession er angehört, doch mit seinem Bart und seinem kahl werdenden Schädel ähnelt er sehr dem heiligen Thomas.

      Ich bin vollkommen allein, in der weiten Welt außerhalb dieser Mauern gibt es niemanden, der mich noch kennt; meine ganze Familie, diese wenigen verlorenen Gestalten, vor allem mein kleiner Zaunkönig von einer Mutter, sie alle sind nicht mehr. Und auch meine Peiniger, denke ich, sind größtenteils dahin, und der Grund dafür ist, dass ich längst eine alte, alte Frau bin, vielleicht schon an die Hundert, genau weiß das weder ich noch sonst jemand. Ich bin nur ein Überbleibsel, das Relikt einer Frau, und sehe auch gar nicht mehr aus wie ein menschliches Wesen, sondern wie ein dürres Gestell aus Haut


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