Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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Rotkehlchen – nein, wie eine Maus, die unter der Kaminplatte verendet ist, wo’s warm war, und die jetzt daliegt wie eine Mumie in einer Pyramide.

      Niemand ahnt auch nur, dass ich eine Geschichte habe. Nächstes Jahr, nächste Woche, morgen schon werde ich zweifellos verschwunden sein, und man wird nur einen schmalen Sarg und eine kleine Grube für mich benötigen. Einen Grabstein zu meinen Häupten wird es nicht geben, wozu auch?

      Aber vielleicht sind ja alle Menschendinge schmal und klein.

      Ringsum herrscht Stille. Meine Hand ist kräftig, und ich habe einen wunderschönen Kugelschreiber voll blauer Tinte, den mir mein Freund, der Doktor – der in Wahrheit kein schlechter Kerl ist, vielleicht sogar ein Philosoph –, den mir also der Doktor geschenkt hat, weil ich gesagt hatte, mir gefiele die Farbe; ich habe einen Stoß Papier, den ich in einer Vorratskammer zwischen anderen unerwünschten Dingen entdeckt habe, und ich habe ein loses Dielenbrett, unter dem ich diese Schätze verstecke. Ich schreibe mein Leben nieder auf unerwünschtem, auf überschüssigem Papier. Ich beginne mit einem leeren Blatt – mit vielen leeren Blättern. Denn ich würde liebend gern einen Rechenschaftsbericht hinterlassen, eine Art brüchiger, aber aufrichtiger Geschichte meiner selbst, und wenn Gott mir die Kraft dazu schenkt, werde ich diese Geschichte erzählen und sie unter dem Dielenbrett verbergen, und dann werde ich mich unter dem Rasen von Roscommon freudig zur letzten Ruhe betten.

      Mein Vater war der reinlichste Mann der ganzen Christenheit, zumindest der von Sligo. Mir kam er in seiner Uniform wie festgezurrt vor – sie passte nicht einfach nur irgendwie, sondern saß akkurat wie ein Rechnungsbuch. Er war Aufseher des Friedhofs, und für diese Arbeit hatte man ihn mit einer ziemlich prächtigen Uniform ausgestattet, jedenfalls kam sie mir als Kind so vor.

      Im Hof hatte er ein Fass stehen, in dem sich das Regenwasser sammelte, und damit wusch er sich an jedem Tag des Jahres. Mein Gesicht und das meiner Mutter drehte er zur Mauer der Küche hin, und dann stand er ohne Angst, gesehen zu werden, splitternackt zwischen den Moosen und Flechten des Hofes und schrubbte sich bei Wind und Wetter schonungslos ab, und wenn es mitten im Winter geschah, schnaubte er dabei wie ein Stier.

      Karbolseife, mit der man einen schmierigen Fußboden hätte säubern können, schlug er zu einem gut sitzenden Anzug aus Schaum, und dann schabte er mit einem grauen Bimsstein an sich herum, den er, wenn er fertig war, in eine bestimmte Mauernische steckte – aus der ragte er wie eine Nase hervor. All das sah ich mit raschen Kopfbewegungen und Blicken aus den Augenwinkeln, denn in dieser Hinsicht war ich eine durchtriebene Tochter und konnte nicht gehorchen.

      Keine Zirkusnummer hätte mir größeres Vergnügen bereiten können.

      Mein Vater war ein Sänger, der sich nicht zum Schweigen bringen ließ, er sang sämtliche Arien aus den Operetten jener Zeit. Und er liebte es, in den Predigten längst verstorbener Prediger zu lesen, denn dann konnte er sich, wie er sagte, ausmalen, dass die Predigten eines längst entschwundenen Sonntags eben erst gehalten würden und die Worte im Mund der Prediger sich eben erst formten. Sein eigener Vater war Prediger gewesen. Mein Vater war ein leidenschaftlicher, fast möchte ich sagen: ein himmlisch gestimmter Presbyterianer, was in Sligo nicht gerade Mode war. Die Predigten John Donnes schätzte er vor allen anderen, doch sein wahres Evangelium war Religio Medici von Sir Thomas Browne, ein Buch, das sich noch immer in meinem Besitz befindet, ein kleiner zerlesener Band inmitten all dem Klimbim und Krimskrams meines Lebens. Ich habe ihn hier auf meinem Bett vor mir liegen, auf dem Vorsatzblatt steht in schwarzer Tinte sein Name, Joe Clear, das Jahr 1888 und die Stadt Southampton, denn in frühester Jugend war er Matrose gewesen und, noch bevor er siebzehn wurde, in jeden Hafen der Christenheit gesegelt.

      In Southampton trug sich eines der wahrhaft majestätischen oder doch eines der wichtigsten Ereignisse seines Lebens zu, insofern er nämlich meine Mutter Cissy kennenlernte, die Zimmermädchen in dem Seemannsheim war, in dem er bevorzugt übernachtete.

      Er pflegte eine seltsame Geschichte über Southampton zu erzählen, und als Kind nahm ich sie jedes Mal für bare Münze. Und sie mochte auch durchaus wahr sein.

      Als er einmal in den Hafen einlief, fand er in seinem Lieblingsheim kein freies Bett vor und musste die windige Ödnis der Häuserzeilen und Schilder durchstreifen, bis er auf ein einsames Haus stieß, das mit dem Schild »Zimmer frei« Gäste anlockte.

      Er ging hinein und wurde von einer graugesichtigen Frau mittleren Alters empfangen, die ihm ein Bett im Keller ihres Hauses anwies.

      Mitten in der Nacht wachte er auf, denn er meinte, im Zimmer jemanden atmen gehört zu haben. Erschrocken und in jenem hellwachen Zustand, der eine solche Panik begleitet, vernahm er ein Stöhnen, und neben ihm im Dunkeln lag jemand auf dem Bett.

      Mit Hilfe der Zunderbüchse entzündete er seine Kerze. Es war niemand zu sehen. Dann aber sah er, dass die Bettwäsche und die Matratze eingedellt waren, als hätte eine schwere Person darauf gelegen. Er sprang aus dem Bett und rief, bekam aber keine Antwort. Da erst verspürte er in den Tiefen seiner Eingeweide ein grässliches Hungergefühl, wie es seit der Großen Hungersnot noch keinen Iren befallen hatte. Er stürzte zur Tür, die zu seiner Verblüffung jedoch abgeschlossen war. Jetzt war er vollends empört. »Lassen Sie mich raus, lassen Sie mich raus!«, rief er ebenso entsetzt wie entrüstet. Wie konnte die alte Vettel es wagen, ihn einzusperren! Immer wieder hämmerte er gegen die Tür, und schließlich kam die Wirtin und schloss sie in aller Ruhe auf. Sie entschuldigte sich und gab an, sie müsse sie wohl versehentlich gegen Diebe verriegelt haben. Er berichtete ihr von der Störung seiner Nachtruhe, doch sie lächelte ihn nur an, erwiderte nichts und ging wieder zurück in ihre Wohnung. Er hatte den Eindruck, einen eigenartigen Geruch nach Laub, Gestrüpp und Unterholz von ihr aufgefangen zu haben, als wäre sie durch einen Wald gekrochen. Dann trat wieder Stille ein, und er löschte seine Kerze und versuchte zu schlafen.

      Kurze Zeit später wiederholte sich der Vorfall. Wieder sprang er auf, entzündete seine Kerze und ging zur Tür. Wieder war sie abgeschlossen! Und wieder dieser tiefe, nagende Hunger in seinem Bauch. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen ihrer auffallenden Absonderlichkeit, konnte er sich nicht dazu durchringen, die Wirtin herbeizurufen, und schwitzend verbrachte er eine beschwerliche Nacht im Sessel.

      Als der Morgen graute, wachte er auf, kleidete sich an und ging zur Tür. Sie war unverschlossen. Er nahm seinen Seesack und ging nach oben. Da erst fiel ihm der heruntergekommene Zustand des Hauses auf, der ihm im freundlicheren Dunkel der Nacht nicht so deutlich gewesen war. Er konnte die Wirtin nicht aus dem Bett holen, und da sein Schiff segelfertig war, musste er das Haus verlassen, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Beim Hinausgehen warf er ein paar Shilling-Münzen auf den Garderobentisch.

      Als er draußen auf der Straße noch einmal zum Haus zurückblickte, war er sehr beunruhigt, weil so viele Fensterscheiben zerbrochen waren und auf dem eingesackten Dach Schieferplatten fehlten.

      Um im Gespräch mit einem anderen Menschen die Fassung wiederzugewinnen, ging er in den Laden an der Ecke und erkundigte sich bei dem Besitzer nach dem Haus. In dem Haus, sagte dieser, würden bereits seit etlichen Jahren keine Zimmer mehr vermietet, es stünde leer. Eigentlich gehöre es abgerissen, aber es sei eben Bestandteil der Häuserzeile. Er könne die Nacht gar nicht dort zugebracht haben, sagte der Ladenbesitzer. Niemand wohne darin, und niemand würde auch nur im Traum daran denken, es zu kaufen, aus dem einfachen Grund, dass eine Frau dort ihren Ehemann umgebracht hatte, indem sie ihn in einen Kellerraum sperrte und verhungern ließ. Die Frau selbst sei vor Gericht gestellt und wegen Mordes gehenkt worden.

      Mein Vater erzählte mir und meiner Mutter diese Geschichte mit der heftigen Gemütsbewegung eines Menschen, der sie beim Erzählen erneut durchlebt. Vor seinem inneren Auge zogen das düstere Haus, die graue Frau, der stöhnende Geist vorüber.

      »Nur gut, Joe, dass wir Platz hatten, als du das nächste Mal im Hafen warst«, sagte meine Mutter in ihrem nüchternsten Tonfall.

      »Bei Gott, bei Gott, ja«, erwiderte mein Vater.

      Eine kleine Geschichte aus dem Leben, eine Matrosengeschichte, die die damit kontrastierende Schönheit meiner Mutter einbezog und die ungeheure Verlockung, die sie damals und auf Dauer für ihn darstellte.

      Denn ihre Schönheit war die Schönheit


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