Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry
er heiratete sie und nahm sie mit nach Sligo, und fortan verbrachte sie ihr Leben dort. Sie war in diesem Dunkel nicht aufgewachsen, sondern wirkte wie ein verlorener Shilling auf einem Lehmboden, ein Shilling, der verzweifelt glänzt. Ein schöneres Mädchen hatte Sligo nie gesehen, sie hatte federweiche Haut und warme, üppige Brüste wie köstliches, frisch gebackenes Brot.
Die größte Freude meines jungen Lebens bestand darin, bei Einbruch der Dunkelheit mit meiner Mutter auf die Straßen Sligos hinauszulaufen, denn sie ging meinem Vater auf seinem Heimweg von der Arbeit im Friedhof gern entgegen. Erst viele Jahre später, als ich schon größer war, wurde mir im Rückblick klar, dass diesen Gängen eine gewisse Ängstlichkeit innewohnte, als vertraue sie nicht darauf, dass die Zeit und der gewöhnliche Verlauf der Dinge ihn wieder nach Hause führten. Denn ich glaube, eigenartigerweise litt meine Mutter unter dem Nimbus ihrer Schönheit.
Wie ich bereits sagte, war er dort Aufseher, er trug eine blaue Uniform und eine Dienstmütze mit einem Schirm, schwarz wie das Gefieder einer Amsel.
Das war zu der Zeit, als der Erste Weltkrieg tobte und die Stadt so voller Soldaten war, als wäre Sligo selbst ein Schlachtfeld, was natürlich nicht der Fall war. Es waren lediglich Männer auf Heimaturlaub, die wir dort sahen. Aber in ihren Uniformen ähnelten sie durchaus meinem Vater – sodass er, wenn meine Mutter und ich des Wegs kamen und ich ebenso begierig nach ihm Ausschau hielt wie sie, überall in den Straßen aufzutauchen schien. Meine Freude war erst vollkommen, wenn am Ende tatsächlich er es war, der da, etwa an dunklen Winterabenden, vom Friedhof nach Hause geschlittert kam. Und wenn er mich erblickte, spielte er immer mit mir und kasperte herum wie ein Kind. Da erntete er so manchen schiefen Blick, und vielleicht ließ sich sein Verhalten ja auch wirklich nicht mit seiner Würde als Aufseher der Toten von Sligo vereinbaren. Aber er besaß jene seltene Fähigkeit, in Gesellschaft eines Kindes alle Sorgen abzustreifen und in dem fahlen Licht fröhlich und albern zu sein.
Er war Grabwächter, aber er war auch dort er selbst. Mit seiner Schirmmütze und seiner blauen Uniform konnte er jemanden mit hinreichend feierlicher Würde zu der Grabstelle geleiten, in der ein Verwandter oder Freund lag. War er jedoch allein in seinem Friedhofswärterhaus, einem kleinen Tempel aus Beton, so konnte man ihn mit schöner Stimme die Romanze »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« aus Michael Balfes Die Zigeunerin, einer seiner Lieblingsoperetten, singen hören.
Und an freien Tagen schwang er sich auf sein Matchless-Motorrad, um die tückischen Straßen Irlands entlangzurasen. Wenn die Eroberung meiner Mutter als majestätisches Ereignis gelten kann, so war die Tatsache, dass er in einem wirklichen Glücksjahr, etwa um die Zeit meiner Geburt, auf seinem schönen Motorrad die kurze Rennstrecke auf der Isle of Man zurückgelegt hatte, dabei am Leben geblieben, ja sogar auf einem beachtlichen Platz im Mittelfeld gelandet war, eine Quelle unaufhörlicher Erinnerung und Freude und tröstete ihn, da bin ich mir sicher, in seinem von all den schlummernden Seelen umgebenen Betontempel über die trüben Zeiten des irischen Winters hinweg.
Die andere »berühmte« Geschichte meines Vaters – berühmt meint: in unserem winzigen Haushalt – ereignete sich während seiner Junggesellentage, als er noch häufiger an den wenigen Motorradrennen jener Zeit teilnehmen konnte. Sie trug sich in Tullamore zu und ist eine höchst sonderbare Geschichte.
Er fuhr mit Karacho, und vor ihm lag ein lang gestreckter, breiter Hügel, der zu einer scharfen Kurve führte, wo die Straße auf eine Gutsmauer stieß, eine jener hohen, dicken Steinmauern, die während der Großen Hungersnot erbaut worden waren, eine überflüssige Arbeit, um Tagelöhner am Leben zu erhalten. Wie auch immer, der Rennfahrer vor ihm brauste den Hügel hinab und gewann ungeheuer an Fahrt, doch statt vor der gegenüberliegenden Mauer abzubremsen, schien er sogar noch Gas zu geben und zerschellte schließlich gnadenlos in einem schrecklichen Wirrwarr aus Rauch, Metall und einem Donner wie von Kanonen. Mein Vater, der durch seine schmutzige Schutzbrille spähte, hätte beinahe die Kontrolle über seine eigene Maschine verloren, so sehr war ihm der Schreck in die Glieder gefahren; doch dann sah er etwas, das er sich damals nicht und auch später nie zu erklären vermochte, nämlich den Motorradfahrer, der sich wie auf Schwingen emporhob und mit einer raschen, sachten Bewegung, schwerelos gleitend wie eine Möwe im Aufwind, über die riesige Mauer hinwegsegelte. Einen Augenblick lang, nur einen Augenblick lang glaubte er die Schwingen aufblitzen zu sehen, und nie wieder konnte er in seinem Gebetbuch von Engeln lesen, ohne an jenen außergewöhnlichen Vorfall zu denken.
Bitte glauben Sie nicht, dass mein Vater sich etwas zurechtlog, denn dazu war er gar nicht imstande. Zwar trifft es zu, dass die Leute in ländlichen Bezirken – ja selbst in den Städten – einem gern weismachen, sie hätten Wunder geschaut, wie etwa mein Mann Tom, der auf der Straße nach Enniscrone einen Hund mit zwei Köpfen gesehen haben wollte. Ebenso trifft es zu, dass derartige Geschichten nur dann wirkungsvoll sind, wenn der Erzähler unbedingten Glauben vortäuscht – oder wenn er tatsächlich Zeuge solcher Wunder wurde. Doch mein Vater war kein Lügenzauberer und Fabulierer.
Es gelang meinem Vater, sein Motorrad abzubremsen und zum Stehen zu bringen, und als er die Gutsmauer entlangrannte, stieß er auf eine jener sonderbaren kleinen Pforten im Gemäuer. Er stemmte sich gegen das rostige Eisen und eilte durch Brennnesseln und Sauerampfer, um seinen wundersamen Freund zu suchen. Dort lag er denn auch, auf der anderen Seite der Mauer, bewusstlos, aber sonst, und mein Vater schwor Stein und Bein darauf, unverletzt. Schließlich kam der Mann, zufälligerweise ein Herr aus Indien, der an der gesamten Westküste mit seinem Koffer von Tür zu Tür zog und Halstücher und andere Artikel feilbot, wieder zu sich und lächelte meinen Vater an. Beide staunten über seine unerklärliche Rettung, die, wen wundert’s, in Tullamore noch Jahre später Stadtgespräch war. Sollte Ihnen die Geschichte je zu Ohren kommen, so könnte der Erzähler ihr sehr wohl den Titel »Der indische Engel« geben.
Wieder einmal war das seltsame Glücksgefühl meines Vaters vor allem in der Wiedergabe dieser Geschichte greifbar. Es war, als sei ein solcher Vorfall eine Belohnung für ihn, für seine bloße Existenz, ein kleines Erzählgeschenk, welches ihn so freute, dass es ihm im Träumen und im Wachen ein Gefühl des Privilegiertseins verlieh, so als setzten sich kleine Fetzen von Geschichten und Ereignissen für ihn zu einem unfertigen Evangelium zusammen. Sollte jemals ein Evangelium über das Leben meines Vaters verfasst werden – und warum nicht? schließlich heißt es, in den Augen Gottes sei das Leben eines jeden Menschen kostbar –, möchte ich annehmen, dass die Schwingen auf dem Rücken seines indischen Freundes, die er nur flüchtig zu sehen bekommen hatte, sich zu etwas Stofflicherem auswachsen und Dinge, die er nur angedeutet hatte, in der Nacherzählung durch einen Dritten feste Gestalt annehmen würden, unbeweisbar zwar, doch dafür um so mehr ins Reich der Wunder verwiesen. Auf dass alle Welt darin Trost finden möge.
Das Glücksgefühl meines Vaters. Es war an sich schon ein kostbares Geschenk, so wie vielleicht die Ängstlichkeit meiner Mutter der Knüppel war, der ihr andauernd zwischen die Beine geworfen wurde. Denn meine Mutter erfand niemals kleine Legenden über ihr Leben und kam ganz und gar ohne Geschichten aus, obwohl ich mir sicher bin, dass sie ebenso viele interessante Dinge zu erzählen gehabt hätte wie mein Vater.
Es ist schon seltsam, aber mir fällt auf, dass Menschen ohne Anekdoten, die sie zu ihren Lebzeiten nähren und die sie nach ihrem Tod überdauern, nicht nur der Geschichte, sondern auch den nachfolgenden Generationen eher abhanden kommen. Natürlich ist dies das Los der meisten Menschenseelen: Ganze Leben, ganz gleich, wie intensiv und wunderbar, schrumpfen auf jene traurigen schwarzen Namen in welken Familienstammbäumen zusam men, hinter denen nur ein halbes Datum und ein Fragezeichen baumeln.
Das Glücksgefühl meines Vaters rettete ihn nicht nur, sondern trieb ihn zu Geschichten an und erhält ihn selbst jetzt noch in mir am Leben, wie eine zweite, geduldigere und anziehendere Seele in meiner armen Seele.
Vielleicht war sein Glücksgefühl ja durchaus unbegründet. Aber darf sich ein Mensch in den langen, sonderbaren Läuften seines Lebens nicht, so gut es geht, selbst glücklich machen? Ich halte das für legitim. Schließlich ist die Welt ja wirklich wunderschön, und wenn wir keine Menschen wären, sondern andere Geschöpfe, so könnten wir sehr wohl dauerhaft glücklich in ihr sein.
Das wichtigste, ohnehin schon enge Zimmer in unserem kleinen Haus teilten wir mit zwei großen Gegenständen. Einer davon war