Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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an. Nein, nein«, sagte er und erhob sich. »Ganz bestimmt nicht. Aber es ist meine Pflicht, Ihnen die Fakten vorzutragen.«

      Und wieder durchquerte er mit einer Art unendlicher ärztlicher Geduld den Raum und ging zur Tür.

      »Sie verdienen nichts anderes, Mrs McNulty.«

      Ich nickte.

      Mrs McNulty.

      Immer wenn ich diesen Namen höre, muss ich an Toms Mutter denken. Auch ich war einmal eine Mrs McNulty, allerdings nie auf so überlegene Weise wie sie. Nie. Wie sie mir hundertfach deutlich machte. Außerdem, wieso habe ich meinen Namen seither immer als McNulty angegeben, wenn sich doch jedermann größte Mühe gab, mir den Namen wegzunehmen? Ich weiß es nicht.

      »Vorige Woche war ich im Zoo«, sagte er plötzlich, »zusammen mit einem Freund und dessen Sohn. Ich war in Dublin, um ein paar Bücher für meine Frau abzuholen. Über Rosen. Der Sohn meines Freundes heißt William, was ja, wie Sie wissen, auch mein Name ist.«

      Das wusste ich nicht!

      »Wir kamen zum Giraffenhaus. William hatte große Freude an ihnen, zwei riesige, langhalsige Giraffendamen waren es, mit weichen, langen Beinen, sehr, sehr schöne Tiere. Ich glaube, ich habe noch nie so schöne Tiere gesehen.«

      Dann bildete ich mir ein, in dem schimmernden Zimmer etwas Merkwürdiges zu sehen, eine Träne, die ihm in den Augenwinkel trat, über die Wange lief und rasch herabfiel, eine Art verborgenen, ganz intimen Weinens.

      »So schöne Tiere, so schöne Tiere« sagte er.

      Sein Gerede hatte mich in Schweigen gehüllt, ich weiß nicht, warum. Es war eben doch nicht das offene, unbeschwerte, frohe Gerede meines Vaters. Ich wollte ihm zuhören, ihm aber jetzt nicht antworten. Diese eigenartige Verantwortung, die wir anderen gegenüber verspüren, wenn sie reden: ihnen den Trost einer Antwort zu bieten. Wir armen Menschen! Außerdem hatte er mir gar keine Frage gestellt. Er schwebte lediglich dort im Zimmer, substanzlos, ein Mann mitten im Leben, der, noch auf den Beinen, unmerklich dahinstarb, wie wir alle.

      VIERTES KAPITEL

      Später kam John Kane in mein Zimmer geschlurft. Murrend schob er seinen Besen vor sich her, ein Mensch, den ich zu akzeptieren gelernt habe wie alle Dinge hier, die man, wenn man sie nicht ändern kann, ertragen muss.

      Mit leisem Grauen bemerkte ich, dass sein Hosenstall offen stand. Seine Hose ist mit einer Reihe klobig aussehender Knöpfe verziert. Er ist ein kleiner Mann, zugleich aber ganz Muskeln und Manneskraft. Irgendetwas stimmt mit seiner Zunge nicht, weil er alle Augenblicke mit son der barer Mühsal schlucken muss. Sein Gesicht ist von einem Schleier dunkelblauer Äderchen überzogen, wie das Gesicht eines Soldaten, der beim Abfeuern einer Kanone zu dicht an die Mündung gekommen ist. In der Gerüchteküche der Anstalt genießt er einen schlechten Ruf.

      »Ich verstehe nicht, wozu Sie all die Bücher brauchen, Missus, Sie haben doch gar keine Brille, um sie zu lesen.«

      Dann schluckte er wieder, schluckte.

      Ich kann auch ohne Brille sehr gut sehen, aber das verriet ich ihm nicht. Er bezog sich auf die drei Bände in meinem Besitz, die Ausgabe der Religio Medici meines Vaters, Der Jagdhund des Himmels und Mr Whitmans Grashalme.

      Alle drei vergilbt und abgegriffen.

      Doch ein Gespräch mit John Kane kann überallhin führen, wie die Gespräche mit Jungs, als ich noch ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren war, eine Schar von Jungs an unserer Straßenecke, die gleichmütig im Regen standen und mir mit leiser Stimme Dinge zuflüsterten – jedenfalls zu Anfang noch mit leiser Stimme. Hier, inmitten der Schatten und fernen Rufe, ist Schweigen die größte Tugend.

       Die, die sie nähren, lieben sie nicht; die, die sie kleiden, fürchten nicht um sie.

      Das ist irgendein Zitat, aber was oder woher, weiß ich nicht.

      Selbst Geschwafel ist gefährlich, Schweigen ist besser.

      Ich bin schon lange Zeit hier, und in dieser Zeit habe ich die Tugend des Schweigens ganz zweifellos erlernt.

      Der alte Tom hat mich hier eingewiesen. Ich glaube, dass er’s war. Sich selbst zuliebe, denn er arbeitete als Schneider in der Irrenanstalt von Sligo. Ich glaube, er hat auch Geld dazugegeben, wegen dieses Zimmers. Oder zahlt Tom, mein Mann, für mich? Aber der kann doch gar nicht mehr am Leben sein. Es ist nicht die erste Anstalt, in die ich eingewiesen wurde, die erste war –

      Aber mir geht’s nicht um Schuldzuweisungen. Dies ist ein anständiger Ort, wenn auch kein Zuhause. Wenn es mein Zuhause wäre, würde ich verrückt!

      Oh, ich muss mich ermahnen, mich klar auszudrücken und sicher zu sein, dass ich weiß, was ich Ihnen da erzähle. Jetzt kommt es auf Richtigkeit und Genauigkeit an.

      Dies ist ein guter Ort. Dies ist ein guter Ort.

      Wie ich höre, gibt es hier in der Nähe eine Stadt. Die Stadt Roscommon. Ich weiß nicht, wie weit es bis dorthin ist, nur, dass ein Feuerwehrauto für die Strecke eine halbe Stunde braucht.

      Das weiß ich deswegen, weil John Kane mich eines Nachts vor vielen Jahren aus dem Schlaf gerissen hat. Er führte mich hinaus auf den Flur und trieb mich zwei, drei Treppen hinunter. In einem der Gebäudeflügel war ein Feuer ausgebrochen, und er wollte mich in Sicherheit bringen.

      Statt mich direkt ins Erdgeschoss zu geleiten, durchquerte er einen langen, dunklen Saal, in dem sich auch Ärzte und andere Mitarbeiter versammelt hatten. Von unten stieg Rauch auf, aber der Saal galt als sicher. Allmählich lichtete sich das Dunkel, oder meine Augen gewöhnten sich daran.

      Es standen an die fünfzig Betten darin, ein langer, schmaler Saal, dessen Vorhänge alle zugezogen waren. Dünne, zerschlissene Vorhänge. Alte, alte Gesichter, so alt wie meines jetzt. Ich war erstaunt. Sie hatten nicht allzu weit von mir entfernt gelegen, und ich hatte nichts davon gewusst. Alte, stumme Gesichter, die erstarrt dalagen, wie fünfzig russische Ikonen. Wer waren sie? Nun, es waren Ihre Angehörigen. Sprachlos, stumm schliefen sie dem Tod entgegen, krochen auf blutenden Knien unserem Herrn entgegen.

      Ein Völkerstamm von Frauen, die einmal Mädchen gewesen waren. Ich flüsterte ein Gebet, um ihre Seelen rascher in den Himmel zu befördern. Denn ich glaube, sie krochen nur sehr langsam dorthin.

      Vermutlich sind sie alle längst tot, zumindest ein Großteil von ihnen. Ich bin nie wieder dort gewesen. Nach einer halben Stunde traf das Löschfahrzeug ein. Daran kann ich mich noch erinnern, weil einer der Ärzte eine diesbezügliche Bemerkung machte.

      Diese Orte, so ganz anders als die Welt da draußen, Orte ohne all die Dinge, derentwegen wir die Welt preisen. Wo Schwestern, Mütter, Großmütter, Jungfern liegen, allesamt vergessen.

      Die Menschenstadt in der Nähe schläft und wacht, wacht und schläft und vergisst ihre verlorenen Frauen dort, in langen Reihen.

      Eine halbe Stunde. Ein Brand brachte mich dazu, sie zu sehen. Nie wieder.

       Die, die sie nähren, lieben sie nicht.

      »Brauchen Sie das noch?«, fragt John Kane dicht an meinem Ohr.

      »Was ist es?«

      Es lag auf seinem Handteller. Die halbe Schale eines Vogeleis, blau wie die Äderchen in seinem Gesicht.

      »O ja, danke«, sagte ich. Es war etwas, das ich vor vielen Jahren im Park aufgelesen hatte. Das Ei hatte in einer Fensternische gelegen, und bis dahin hatte er es nie erwähnt. Aber es hatte dort gelegen, blau, ohne jeden Makel und alterslos. Und doch ein altes Ding. Vor vielen, vielen Vogelgenerationen.

      »Vielleicht ist es ein Rotkehlchenei«, meinte er.

      »Vielleicht«, antwortete ich.

      »Oder ein Lerchenei.«

      »Ja.«

      »Jedenfalls lege ich es zurück«, sagte er und schluckte erneut, als wäre seine Zunge an der


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