Herbst in Nordkorea. Rudolf Bussmann
Literatur und Dokumentationen zu Nordkorea
Vorbemerkung
Wer sich mit Nordkorea beschäftigt, macht die Erfahrung, dass sich dieser Staat der Annäherung entzieht, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist die Demokratische Volksrepublik Korea selbst äußerst zurückhaltend mit Informationen, die ihre inneren Belange betreffen. Was im Zentrum des Machtapparats, an der Spitze der Partei, der Armee, der politischen Gremien, an Auseinandersetzungen, Intrigen, Machtspielen vor sich geht und wie Beschlüsse zustande kommen, dringt nicht an die Öffentlichkeit, nicht an die nordkoreanische und auch nicht an eine internationale. Wirtschaftszahlen werden kaum bekannt gegeben, und wenn, lassen sie sich nicht überprüfen. Verlässliche Statistiken fehlen seit Jahrzehnten, was Vergleiche mit anderen Staaten problematisch macht und es erschwert, die Entwicklung des Landes nachzuzeichnen. Studien über die Lebensbedingungen der Einwohnerinnen und Einwohner, vor allem derjenigen auf dem Land, gibt es ebenso wenig wie eine Aufarbeitung der Geschichte seit 1948, als in Süd- und Nordkorea erstmals getrennte Wahlen stattfanden. So ist es fast unmöglich, sich ein Bild davon zu machen, wie es den Leuten in den wechselvollen Perioden vom Koreakrieg bis zur Machtübernahme von Kim Jong-un 2011 erging. Wir wissen wenig darüber, was die Bevölkerung denkt, fühlt, wovon sie träumt, wie sie den harten Wintern trotzt, mit dem geringen Lohn zurechtkommt, die Zeiten von Nahrungsmittelmangel überlebt.
Berichte von Menschen, denen die Flucht aus dem abgeriegelten Land geglückt ist, machen davon punktuell etwas sichtbar. Sie sind an Einzelschicksale gebunden und aus der Perspektive von Opfern geschrieben, die nicht selten traumatisiert sind, und geben vor allem Aufschluss über das Funktionieren des Repressionsapparats. Eine breitere Schilderung des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens in Nordkorea finden wir dort, wo die Zeugen in Sammelbänden zu Wort kommen und, begleitet von Kommentaren kundiger Herausgeber, sich gegenseitig ergänzen. Das gilt etwa für das von Daniel Tudor betreute Buch Ask a North Korean, das die Aussagen zahlreicher Betroffener zu inhaltlichen Schwerpunkten zusammenfasst. Das gilt auch für die Interviews mit Nordkoreanern, die von der US-amerikanischen Journalistin Barbara Demick zu Geschichten aus dem Alltag in Nordkorea, so der Untertitel, verdichtet wurden und über den Einzelfall hinausgehen. Sie lassen die Zeit der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts lebendig werden.
Eigentlich verlangte die undurchsichtige Nachrichtenlage danach, dass sich die westlichen Medien im Zusammenhang mit Nordkorea um besonders sorgfältige Abklärungen und vertiefte Recherchen bemühen. Stattdessen – und das ist die zweite Schwierigkeit, dem Land näherzukommen – schaffen Halbwissen und Vorurteile vor allem im Internet Raum für Spekulationen und ungehemmte Ausschmückung unbelegter Behauptungen. Stereotype werden zur Wahrheit erklärt, Gerüchte zur Gewissheit hochstilisiert, Ereignisse aus dem historischen Zusammenhang gerissen, Tatsachen mit Halbwahrheiten durchmischt. Nordkorea mutiert zum Phantomstaat, der, abgelöst von jeder Wirklichkeit, die Fantasie beflügelt.
Dem setzen Nachrichtenmedien in ihrer Berichterstattung nur wenig entgegen. Sie pflegen bei aktuellem Anlass pflichtschuldig das Nötigste zu melden und anstelle der anstehenden Analyse Material aus den eigenen Archivbeständen anzubieten. Fast schon reflexartig werden die Themen Atomprogramm, Gefangenenlager, Armut wiederaufbereitet. Mehr als die Vorgänge im Land scheinen die Auftritte des Diktators zu interessieren. So schlagen sich die nordkoreanischen Machtverhältnisse ungewollt in den Berichten nieder, und die Empörung über das totalitäre System droht in Heuchelei zu enden.
Gesichertes Wissen ist vor allem in jenen Medien zu finden, in denen regelmäßig gut informierte Korrespondenten schreiben, die sich auf Berichte internationaler Organisationen stützen, etwa in der NZZ, der Zeit, der Welt, Le Monde oder The Guardian. Ebenso durch die umfangreichen Recherchen von Nachrichtenportalen wie Arte, ZDF, Focus, die ihre Nachrichtenteams ins Land schicken und ergänzend Nordkorea-Kenner aus aller Welt befragen. Ihre Dokumentationen sind in der Regel auf die Hauptstadt und ihre Umgebung beschränkt und widmen sich Einzelthemen. Wer einen Gesamtüberblick über Geschichte und Entwicklung der nordkoreanischen Gesellschaft gewinnen will, kann auf einige Buchpublikationen zurückgreifen. Stellvertretend sei hier das Buch Nordkorea des ausgewiesenen Nordkorea-Experten Rüdiger Frank genannt, das Detailkenntnis mit guter Lesbarkeit vereint. Eine umfangreiche Materialsammlung bietet zudem die britische Wissenschaftlerin Hazel Smith, die in ihrem Buch North Korea. Markets and Military Rule ungefähr alle relevanten Daten über Nordkoreas Wirtschafts- und Sozialleben seit den neunziger Jahren zusammen getragen hat, die im Westen bis 2015 greifbar waren. Für Kenner der koreanischen Sprache, zu denen ich nicht gehöre, steht ein entsprechend großes Angebot an einschlägigen Werken zur Verfügung; seit Jahren wird an südkoreanischen Universitäten über den Nachbarn im Norden intensiv geforscht und publiziert.
Warum nicht einfach hinreisen und einen Blick hinter die Schleier werfen? Diese Überlegung begleitete mich eine Weile. Hinreisen, sich ein eigenes Bild machen und dieses ergänzen durch das verlässliche Wissen, das trotz allem über Nordkorea und seine Geschichte zur Verfügung steht. Europäische Staatsbürger haben das Privileg, jederzeit ohne Mühe ein Touristenvisum beantragen und nach Nordkorea einreisen zu können. Im Herbst 2018 reiste ich zusammen mit der Journalistin und Übersetzerin Hoo Nam Seelmann, die in Südkorea geboren und aufgewachsen ist und einen Schweizer Pass besitzt, nach Nordkorea. Der Auslöser ist Yu-mi – so nenne ich sie in diesem Buch – zu verdanken. Sie wollte einmal in ihrem Leben den Paektusan, den Weißkopfberg (san heißt Berg), besteigen, den heiligen Berg der Koreanerinnen und Koreaner, der auf dem nördlichen Grenzabschnitt Nordkoreas zu China liegt. Unserem Wunsch, bei dieser Gelegenheit die nordöstliche Provinz Hamgyŏng-pukto (puk heißt Nord, to oder do Provinz), Nord-Hamgyŏng, zu bereisen, wurde entsprochen, sodass wir fernab von Pjöngjang, dem üblichen Ziel für Touristen, unterwegs waren, in einer Gegend reich an Überraschungen und landschaftlicher Schönheit.
Wie alle ausländischen Besucherinnen und Besucher wurden wir von Führern begleitet und an sorgfältig ausgewählte Reiseziele gebracht. Auch hatten wir uns damit abzufinden, dass es einen freien Kontakt zu den Einheimischen nicht geben kann. Dass Hoo Nam Seelmann die Landessprache spricht und sich mit den Leuten problemlos hätte unterhalten können, änderte daran nichts. Die Menschen gingen vorüber, ohne uns zu beachten, und wir machten gar nicht erst den Versuch, sie anzusprechen, um sie nicht in eine unangenehme Situation zu bringen. So unterblieb selbst ein Grüßen, das Reisende und Einheimische überall auf der Welt zu einem Gegenüber, zu Mitmenschen macht. Dieses Fehlen jeglichen Austauschs mit der nordkoreanischen Bevölkerung bildet das dritte Hemmnis, sich dem Land zu nähern.
Das letzte stellte sich bei der Niederschrift dieses Buches ein. Es betrifft die Haltung des Beobachters, der sich auf eine fremde Kultur und darüber hinaus auf einen weltpolitisch isolierten Staat einlässt. Mein eurozentrischer Blick ist das eine. Er erfuhr durch meine koreanische Begleiterin nicht selten eine heilsame Korrektur; dennoch ist die eingeschränkte Perspektive bei der Lektüre in Rechnung zu stellen. Das andere ist die Befangenheit, die sich bei dem ideologisch aufgeladenen Thema Nordkorea unwillkürlich einstellt. Wie begegnet man einem Staatswesen, dem eine rechtsstaatliche Praxis fehlt? Mit Interesse an seiner Geschichte, Verständnis für seine Menschen und deren Probleme. Aber wo beginnt in dem Versuch, auch das Regime und das politische Herrschaftssystem zu verstehen, bereits dessen Rechtfertigung? Bedeutet der Vorsatz, über das, was wir sehen, nicht vorschnell zu urteilen, schon Befangenheit? Wie sieht eine Kritik aus, die Missstände benennt, ohne die gängigen antikommunistischen Abwehrreflexe zu bedienen? Wie sieht eine Sprache aus, die nicht unterschwellig taxiert, den Gesprächspartnern nicht bei jedem Wort misstraut? Eine unvoreingenommene Haltung den offensichtlichen