Herbst in Nordkorea. Rudolf Bussmann

Herbst in Nordkorea - Rudolf Bussmann


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sich in leichten Wellen das Land. Weite hellgelbe Felder ziehen sich hinüber in die Mandschurei, Schatten von Wolken segeln darüber weg. Vor uns am Steilhang ragen vereinzelte Felsbrocken aus dem Schnee. Es ist kalt, die Leute sind in ihre Jacken eingehüllt, haben sich Mützen aufgesetzt, stapfen aufwärts, den Blick zum Boden, um nicht auszurutschen. Die Vulkankrete ist durch eine Absperrung aus Seilen gesichert. Die Menschen stehen dicht an dicht auf einem rund hundert Meter langen Abschnitt, der vom Schnee geräumt ist. Einige haben sich uns zugewandt.

      »Warum schauen sie her und winken?«, fragt Yu-mi.

      Sie blicken nicht zu uns, sie schwenken ihre Telefone und machen Selfies. Oder sie lassen sich ablichten, mit dem Bergpanorama im Hintergrund. Als wir oben ankommen, entfährt uns wie allen ein Laut des Staunens. Der Boden bricht ab, senkrecht fällt der Vulkanfels in die Tiefe. Hunderte Meter unter uns erstreckt sich in dem ausgreifenden Kessel glatt und unbewegt der Kratersee. Die Sicht hinüber auf die verschneite Caldera, wo irgendwo die Grenze zu Nordkorea beginnt, auf die schwarzen Zacken der erstarrten Lava und hinab in den weit geschwungenen Krater nimmt einem beinahe den Atem. Im See spiegelt sich der stahlblaue Himmel, silbrige Wolken ziehen darüber hin. Oben und unten sind vertauscht, man blickt hinunter in das Firmament. Fast zehn Quadratkilometer Fläche bedeckt der Himmelssee, er reicht bis in eine Tiefe von 384 Metern und zählt zu den bedeutenderen Kraterseen der Erde.

      Immer schon und bis heute wird der Paektusan von den umliegenden Völkern verehrt. Der legendäre Gründer des ersten koreanischen Staates, Tan’gun, soll hier als Frucht der Verbindung des Himmelsgottes Hwanung und einer Bärin geboren worden sein. Als höchster Gipfel der koreanischen Halbinsel gilt er im nördlichen wie im südlichen Teil als Symbol eines vereinigten Korea, auch wenn sich Nordkorea bemüht, ihn als den heiligen Berg der koreanischen Revolution der Historiografie des Staates einzuverleiben. Das schwer zugängliche Bergmassiv diente Kim Il-sung, dem späteren Staatsgründer Nordkoreas, und den von ihm geführten Partisanen als Zentrum des Widerstands gegen die japanische Besatzung. In einem Geheimlager in einer verschneiten Blockhütte soll nach nordkoreanischer Darstellung auch Kim Jong-il, der Sohn und Nachfolger Kim Il-sungs, das Licht der Welt erblickt haben. In Wirklichkeit wurde er weit weniger romantisch in einem sowjetischen Ausbildungslager in Russland geboren.

      Heute teilen sich Nordkorea und China den Berg. Die Aufteilung fand ohne Beteiligung der Koreaner statt, 1909 in der Gando-Konvention zwischen China und Japan, als Korea unter japanischer Kolonialverwaltung stand; das Abkommen wurde erst 1963 von nordkoreanischer Seite akzeptiert. Der heilige Berg ist längst zu einem Politikum geworden. Und der Tagestourismus auf seine Caldera hat die Aura des Spirituellen, die ihm seit Urzeiten anhaftet, entzaubert. Dennoch vertraute der Ausflug der Präsidenten von Nord- und Südkorea mit ihren Gattinnen vor zwei Tagen auf seine alte Symbolkraft. Von ihm sollte das Signal ausgehen, dass es eines Tages einen friedlichen Zugang aller Menschen und Völker zu diesem Berg geben wird.

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      1Das südkoreanische Ministerium für Wiedervereinigung führt eine offizielle Statistik über Flüchtlinge aus Nordkorea, vgl. www.unikorea.go.kr/eng_unikorea/relations/statistics/defectors/.

       Über die Grenze

      Um sieben Uhr früh wartet an der Rezeption des Yanbian International Hotel in Yanji der chinesische Fahrer, der uns an die nordkoreanische Grenze bringen wird. Es ist ein junger Mann, vielleicht dreißig; von ihm stammt der Brief, der am Vortag unter der Zimmertüre hindurchgeschoben wurde und mit großen ungelenken Buchstaben an den Termin erinnert. Der Mann verbeugt sich und streckt uns sein Smartphone entgegen, auf dem er uns via Übersetzungsprogramm eine gute Reise wünscht. Wir steigen in seinen Wagen.

      In der Stadt herrscht dichter Morgenverkehr. Eltern bringen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule oder lassen sie per Taxi hinfahren; einige Mütter sind, ihr Kind an der Hand, zu Fuß unterwegs. Wer ein Fahrrad oder einen der dreirädrigen Kleinwagen fährt, versucht, im gefährlich schmalen Korridor zwischen den Autokolonnen vorwärtszukommen, nur dort wird er geduldet. An den Bushaltestellen stehen die Wartenden eng nebeneinander direkt an der Fahrbahn. Für sie ist kein Platz vorgesehen; sie drücken ihren Rücken, vor ihren Füßen die rasenden Autos, an eine Hecke oder eine Mauer.

      Wir verlassen die Stadt mit ihren 650’000 Einwohnern Richtung Osten. Allmählich lichten sich die Häuserreihen, Werkstattschuppen und Fabriken stehen vereinzelter. Auf einer neu gebauten Autobahn fast ohne Verkehr geht es über Hügel mit herbstlich farbigen Wäldern hinunter in die weite Ebene, die der Fluss Tumen geschaffen hat. Wir müssen den nördlichen Zipfel Nordkoreas umfahren. Auf der Höhe der Stadt Hunchun wechselt der Fahrer auf eine Autostraße, gesäumt von Büschen und roten Blumen, die uns südostwärts durch einen wenige Kilometer breiten Korridor zwischen Nordkorea und Russland an die nordkoreanische Grenze bringt.

      Wir können über den Grenzübergang bei Quanhedao nach Nordkorea einreisen, der vorwiegend dem Warentransport dient und zudem chinesischen Reisegruppen offensteht. Gewöhnlich werden Touristen in den besser entwickelten Süden geführt, nach Pjöngjang, an die Grenze zu Südkorea und zu den großen Landwirtschaftskollektiven. Von den zwanzig Prozent des Staatsgebiets, die für Fremde überhaupt zugänglich sind, gehört die nordöstliche Ecke nicht zu den Vorzeigedestinationen. Umso größer unsere Neugier, die wenig bekannte Provinz Hamgyŏng-pukto zu besuchen. Die Wahrheit über ein Land ist am leichtesten in seinen ärmsten Gebieten zu erahnen.

      Der Fahrer hält auf einem Parkplatz voll von Taxis und einigen Bussen. Wer keine Waren zu transportieren hat, steigt hier aus, lässt den Wagen stehen und geht zu Fuß über die Grenze. Am Ende des Parkplatzes erhebt sich ein hoher gemauerter Durchgang wie ein Triumphbogen. Dahinter findet unter freiem Himmel eine erste Passkontrolle statt. Vor uns erstreckt sich ein weiter Platz, leer, an seinem Ende liegt das chinesische Abfertigungsgebäude. Die Anlage erinnert an einen buddhistischen Tempelbezirk, wo Tore und Vorhöfe den Besucher von seinem gewohnten Leben lösen, ihn in das Heilige einstimmen und erst nach und nach Zugang zum Inneren gewähren.

      Ich zögere. Erstmals seit dem Entschluss, hierher zu reisen, kommen mir Bedenken. Hinter diesen säkularen Tempelmauern werde ich nicht nur mein gewohntes Leben aufgeben, sondern auch meinen freien Willen und meine Entscheidungsfreiheit. Ich habe mich auf ein Abenteuer eingelassen, das ich nicht steuern, nicht beeinflussen, nicht unterbrechen kann und aus dem es unterwegs keinen Ausstieg gibt. Ich werde mich Leuten anvertrauen müssen, deren Absichten ich nicht kenne, die uns in der Hand haben, uns die Regeln diktieren und Dinge erklären, die wir nicht nachprüfen können.

      Wir ziehen die Rollkoffer über das holprige Pflaster. Genau das, sage ich mir, hast du doch gerade vier Tage lang praktiziert. Du hast deinen Willen an die südkoreanische Reiseleiterin abgegeben und dich zu einem Trip aufgemacht, bei dem du nicht ein einziges Mal nach deinen Wünschen gefragt wurdest. Du hast alles mitgemacht, was für euch vorgesehen war, hast gegessen, was euch vorgesetzt, nicht hinterfragt, was euch gesagt wurde. Kein einziges Mal hast du dich von der Gruppe entfernt oder hast abends das Hotel verlassen. Was misst du jetzt mit ungleichem Maß?

      Am Fuß der Freitreppe, die in das chinesische Grenzgebäude führt, fragt uns ein Offizier nach dem Grund unseres Grenzübertritts. Er wünscht uns eine gute Reise und weist uns zum Eingang. Im Innern ziehen einige Dutzend junge Frauen unsere Aufmerksamkeit auf sich, die in akkurater Dreierkolonne vor einer Absperrung stehen, schweigend, mit makellosem Make-up, die Haare streng nach hinten gebunden. Sie tragen Rock und Bluse oder ein Kleid und Pumps. Es sieht aus, als hätten sie sich zu einer Aufführung eingefunden. Keine lächelt, keine verzieht das Gesicht, sie stehen vollkommen ausdruckslos, geduldig und diszipliniert in der Reihe. Einzeln treten sie an den Schalter, wo sie unbeweglich und aufrecht stehen wie vor den Schranken des Gerichts.

      »Wer ruft diese adretten Puppen ins Reich von Kim Jongun?«, frage ich Yu-mi.

      Yu-mi schaut mich von der Seite an. Ihr rechtes Auge ist zugekniffen, kein gutes Zeichen bei ihr. »Ich weiß nur eines«, sagt sie, »es sind gut gekleidete junge Asiatinnen. Von ihnen als von Puppen zu sprechen, kann nur einem Mann einfallen. Einem Europäer«, ergänzt sie. »Bei einem ähnlichen Aufmarsch


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