Herbst in Nordkorea. Rudolf Bussmann
sich sowjetischer Bruderhilfe.
Dann kam 1989. Der Zusammenbruch des Ostblocks traf Nordkorea hart. China und die Sowjetunion, beide selbst in wirtschaftlicher Bedrängnis, kündigten bestehende Verträge und begannen Waren zu Weltmarktpreisen zu liefern. Der nordkoreanische Außenhandel ging dramatisch zurück; von 1990 bis 1998 brach er auf ein Drittel seines Werts ein (vgl. S. 73–84). Dem Land fehlten die Devisen, um Rohstoffe und Energie zu kaufen; die Wirtschaft war daran zu kollabieren. Im Zuge dieser Entwicklung dürfte die Raffinerie Anfang der neunziger Jahre ihre Tore geschlossen haben. Sie nahm bis auf ein kleines Zwischenspiel 1994, als vorübergehend amerikanisches Erdöl ins Land kam, ihre Produktion nicht wieder auf.
Das Hotelfenster in Rajin läßt sich nicht öffnen. Es ist mit einer getönten Folie überzogen. Ein nostalgisches Braun liegt über der leeren Kreuzung, der Brücke, die den Fluss überquert, über der Uferstraße. Ab und zu holpert ein alter Lastwagen vorbei. Personenwagen sind ein Ereignis, sie sind der Post, offiziellen Personen oder Ärzten vorbehalten.
Nähern sich der Kreuzung mehrere Wagen, kommt Bewegung in den blau uniformierten Verkehrspolizisten, der am Straßenrand vor einem Haus steht. Er marschiert in die Mitte auf sein betoniertes rundes Podest, strafft den Körper und beginnt mit ruckartigen Bewegungen die Leere zu dirigieren. Nach getaner Arbeit marschiert er in strengem Schritt an seinen Wartepunkt zurück.
Die beidseitigen Gehsteige sind dagegen belebt. Fußgänger, Leute mit Handwagen, Radfahrer müssen sich den Platz teilen, müssen mit ihren Rucksäcken, Taschen, Brettern, Säcken, den beladenen Rädern aneinander vorbeikommen und gleichzeitig die Spalten im Boden oder die aufstehenden Platten meiden. Oder den Pfützen dort, wo die Gehsteige aus Naturbelag bestehen, ausweichen. Die Straße gehört nicht ihnen, sie ist den nicht vorhandenen Autos vorbehalten. Vor der Kreuzung haben die Radfahrer anzuhalten, vom Rad zu steigen und den Fußgängerstreifen zu Fuß zu überqueren. Erst auf der anderen Straßenseite dürfen sie weiterfahren.
Verkehrsordnung in Absurdistan. Einigen wenigen Privilegierten sind die Straßen vorbehalten, während über neunzig Prozent der Menschen, die unterwegs sind, sich auf den Gehsteigen drängen. Die Benutzung des Fußgängerstreifens ist zwar Pflicht, schützt jedoch keineswegs vor den Autos, die uneingeschränkt Vortritt haben und die Fußgänger, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen, mit ungedrosseltem Tempo hupend von den Zebrastreifen jagen.
Ich erzähle Herrn Lee, wie der Verkehr bei uns geregelt ist; dass die Zebrastreifen mit der Pflicht, sie zu benutzen, zugleich den Schutz vor dem Autoverkehr garantieren und dass die Fahrbahn auch von Radfahrern benutzt wird. Er schaut mich erstaunt an.
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2Zur Raffinerieruine vor Rajin vgl. Rüdiger Frank, Unterwegs in Nordkorea, S. 332.
Die Sonderwirtschaftszone Rasŏn
Dunkle Wolkenschiffe jagen über den Himmel, das Meer wirft schiefergraue Wellen an die Küste. Lichtinseln breiten sich auf dem Wasser aus und verschwinden. Verankerte Fischerboote schwanken in der Bucht.
Der Strand ist leer. Ein wuchtiger Gebäudekomplex erinnert an einen der Hotelkästen, wie sie in den fünfziger Jahren an die südeuropäischen Mittelmeerstrände geklotzt wurden. Es ist ein Kasino.
»Seit achtzehn Jahren ist es in Betrieb und gehört einem Unternehmer aus Hongkong«, sagt Herr Kang auf meine erstaunte Frage mit unbewegter Miene. »Er wollte es ursprünglich auf die Insel Pipa dort drüben stellen. Aber«, sagt er mit leichtem Nachdruck, »das wurde ihm nicht erlaubt.«
»Von wem nicht erlaubt? Von der Partei?«
»Von der Provinzregierung.«
»Also doch von der Partei?«
»Eigentlich nicht. Von der Provinzregierung.«
Die Wege, die ein Projektverfahren in Nordkorea nimmt, sind schwer zu durchschauen. Die Mitglieder der Regierungen auf allen Ebenen sind zugleich Funktionäre der omnipräsenten Partei der Arbeit, deren Direktiven durch die Regierungen vermittelt und umgesetzt werden. Dass es zwischen der zentralen Parteileitung und den regionalen politischen Gremien zu Differenzen kommt, ist zu vermuten. An die Öffentlichkeit dringt davon nichts.
»Das Kasino spielt also einem privaten Financier aus Hongkong Geld in die Tasche? In der Demokratischen Volksrepublik Nordkorea?«
Herr Kang erklärt. Wir befinden uns in einer der Sonderwirtschaftszonen Nordkoreas, denen eine andere Wirtschaftsordnung zugrunde liegt als in den anderen Landesteilen. Die Zone von Rasŏn wurde 1991 eingerichtet. Sie ist die älteste und die einzige, die seit ihrer Einrichtung ohne Unterbrechung existiert.3
Mehr sagt er nicht. Mehr weiß er vielleicht nicht. Mehr mitzuteilen hält er für unnötig. Yu-mi sucht, während ich mich der Aussicht über das Meer hingebe, in ihrer Gedächtnisdatei.
»Das Vorbild ist China«, sagt sie. »Wie der große Nachbar hat Nordkorea verschiedene Versuche gemacht, die Wirtschaft im Land in kapitalistischer Art voranzutreiben. Dazu war erforderlich, ausländischen Firmen den Zugang zu Bauland zu erleichtern. Die Sonderwirtschaftszonen liegen alle in Grenzregionen zu Südkorea und China.« Die Zone von Rasŏn verfüge über optimale Voraussetzungen. Die Stadt Rajin habe einen eisfreien Hafen, was sie für Russland interessant mache, und China eröffne sie einen Zugang zum Ostmeer. Die Region sei zudem reich an Bodenschätzen. »Dazu kommen attraktive Rahmenbedingungen für ausländische Inverstoren. Gewinne können außer Landes gebracht, die benötigten Investitionsgüter, Vorprodukte und Waren zollfrei ein- und ausgeführt werden. Vor allem China und auch Russland haben hier investiert. China hat die Autostraße zu der chinesischen Stadt Hunchun gebaut, auf der wir hergekommen sind. Russland half die Eisenbahnlinie zur Grenze auszubauen. Die Unternehmen haben sich zum Teil als unabhängige Firmen, zum Teil in Joint Ventures mit nordkoreanischen Unternehmen angesiedelt.«
Sie wendet sich an Herrn Kang: »Wenn ich richtig orientiert bin, stammen die Unternehmen dieser Gegend vorwiegend aus China?«
Herr Kang nickt. »Sie sind in den Bereichen Telekommunikation, Transport, Finanzwesen, Tourismus, Dienstleistungen und Fischerei tätig.« Ihn scheint der Einbruch kapitalistischer Verhältnisse in sein Land nicht zu stören. »Die Einrichtung der Sonderwirtschaftszone hat hier einen gewissen Wohlstand gebracht«, sagt er. »Die nordkoreanischen Arbeiter sind beliebt, sie sind billig, fleißig und gut ausgebildet.«
»Und abends trifft man sie im Kasino?«
»Das Kasino steht nur Ausländern offen.«
Die Zone von Rasŏn ist fast vollständig von China abhängig. Der Austausch mit China macht schon neunzig Prozent des gesamten nordkoreanischen Außenhandels aus, hier ist es noch mehr. Chinesische Firmen dürfen unbegrenzt eigenes Personal einführen. Die jungen Frauen, die wir bei der Einreise am Grenzübergang warten sahen, waren weibliche chinesische Arbeitskräfte, die in chinesischen Betrieben arbeiten. An Disziplin und Zuverlässigkeit mangelt es ihnen genauso wenig wie den nordkoreanischen. So stehen Arbeiterreservearmeen zu beiden Seiten der Grenze bereit. Auf den ersten Blick scheint Rasŏn die Träume jedes kapitalistischen Unternehmers zu erfüllen.
Vor der Abfahrt, als wir in Rajin Dollars in nordkoreanische Wŏn wechseln wollten, wurde uns bedeutet, das hier gebräuchliche Zahlungsmittel sei der chinesische Renminbi. Wir tragen jetzt die Währung eines wirtschaftlichen Kolonialisten mit uns. Die Golden Triangle Bank ist die einzige Bank Nordkoreas außerhalb von Pjöngjang, wo Ausländer Geld wechseln können. Wir hatten das imposante Halbrund einer mit Marmor ausgekleideten Eingangshalle betreten. Von den insgesamt zwanzig Schaltern waren drei bedient, Kunden hatte es nur wenige.
Das Gebäude war für eine boomende Wirtschaftszone gebaut worden, doch diese kam nie recht auf Touren. Rasŏn ist kein Erfolgsmodell geworden; Straßen- und Eisenbahnbau vermochten mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nicht Schritt zu halten. Die Kommunikationsnetze sind nicht ausgebaut, die Randlage im äußersten Nordosten Nordkoreas ist wenig attraktiv. Auch dass der Staat eine vierzehnprozentige Gewinnsteuer einzieht und die regionale Verwaltung es sich vorbehält, bei der Entwicklung der