Führen Sie schon oder herrschen Sie noch?. Heinz Siebenbrock
„Derzeit haben lediglich 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland eine emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber. (…) 16 Prozent und damit fast sechs Millionen Beschäftigte haben gar keine emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen und haben bereits innerlich gekündigt.“8
Das Gros derjenigen, die sich in Forschung und Lehre mit der Betriebswirtschaftslehre auseinandersetzen, behauptet zu Unrecht, dass diesem Fach kein Wertegerüst zu Grunde liegt; es handele sich angeblich um eine wertfreie Wissenschaft. Ohne die Fundamentalkritik Alfred Nobels an der Wissenschaftlichkeit dieses Fachs aufgreifen zu wollen, sei zumindest die angebliche Wertefreiheit in Frage gestellt. Der auch politisch einflussreiche tschechische Ökonom Tomáš Sedláček bemerkt dazu: „Es ist paradox, dass ein Gebiet, das sich vorwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will.“9
Die der Betriebswirtschaftslehre impliziten Aufforderungen zur Gewinnmaximierung, zur Wettbewerbsorientierung und zum Wachstum sind alles andere als wertfrei! Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, wirken sich gerade diese Leitbilder äußerst ungünstig auf das Mitarbeiter-Vorgesetzten-Verhältnis aus.
Das bisherige Leitbild: Unterdrückung
Statt eine ernsthafte Wertediskussion zu führen, tragen die Fachvertreter der betriebswirtschaftlichen Theorie weiterhin unbeirrt ihre ‚Lobgesänge‘ auf Gewinnmaximierung, auf Wettbewerbsorientierung und auf Wachstum vor. Das hat Konsequenzen für die Praxis: Viele Unternehmen folgen diesen falschen Leitbildern und setzen damit letzten Endes auf ein Gegeneinander, auf Kampf und auf Unterdrückung.
Eine auch in wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen mittlerweile ernstgenommene Gegenbewegung macht erfreulicherweise Hoffnung: Die Rede ist von ‚New Work‘. Dieser Begriff geht auf den austro-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann zurück.10 Dabei geht es um eine Arbeitswelt, in der sich der Mensch verwirklichen und seine Potenziale entfalten kann. „Die zentralen Werte des Konzepts von New Work sind die Selbstständigkeit, die Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft.“11 ‚New Work‘ besteht aus fünf Bausteinen:
1. Die Mitarbeiter werden in die Unternehmensentwicklung (Strategie) einbezogen.
2. Die Mitarbeiter legen ihre Leistungs- und Lernziele selbst fest; dazu gehört, dass sie die Arbeitszeit mit ihren operativen und kreativen Phasen selbst bestimmen.
3. Arbeitsorte, Arbeitszeiten und Arbeitsaufgaben wechseln (Flexibilität).
4. Moderne Bürokonzepte mit kreativen Work-Spaces und notwendigen Rückzugsräumen kommen zum Einsatz.
5. Es wird eine hierarchiearme, demokratische Führungskultur mit gleichwohl schnellen Entscheidungsprozessen angestrebt.12
Eine Arbeitswelt, in der sich Mitarbeiter verwirklichen und ihre Potenziale entfalten können, wird auch mit dem in diesem Buch vorgestellten Führungsmodell angestrebt. Während ‚New Work‘ die sichtbare, die technische und organisatorische Seite dieser neuen Arbeitswelt beschreibt, hilft das Modell ‚Faires Management‘ aktuellen und zukünftigen Führungskräften, den entscheidenden Hintergrund zu einem guten und erfolgreichen Miteinander zu liefern. Frederic Laloux hat mit seinem Buch „Reinventing Organizations“ ein Modell für die Entwicklungsstufen von Organisationen entwickelt. Die höchste Entwicklungsstufe bezeichnet er als „integrale, evolutionäre Organisation“. In seiner empirischen Untersuchung hat Laloux 12 Unternehmen gefunden, die diese Stufe vielleicht noch nicht vollständig erreicht haben, aber auf dem besten Weg dorthin sind bzw. waren. Diese Beispiele lassen erahnen, dass ‚New Work‘ nur eine von mehreren möglichen Ausprägungen dieser (aus heutiger Sicht) höchsten Evolutionsstufe darstellt. Nach Laloux weisen integrale, evolutionäre Organisationen die Merkmale Selbstführung, Ganzheit und evolutionärer Sinn auf.13
1.1 Führung: Eine Frage der Einstellung
Über erfolgreiche Führung ist bereits in Büchern und auf Veranstaltungen so viel geschrieben und gesagt worden, dass der Leser mit Recht eine Begründung für dieses Buch erwartet. In den Wirtschaftswissenschaften, in der Soziologie, in der Psychologie, in der Anthropologie und in der Philosophie ist Führung schon lange Gegenstand der Untersuchung, ohne dass dieses Thema erschöpfend behandelt wird. Jedes Jahr wartet mit neuen Erkenntnissen und neuer Literatur in den unterschiedlichsten Disziplinen auf. Wozu dient nunmehr dieser weitere Beitrag?
Zunächst einmal richte ich mich nicht an ein Fachpublikum oder an Spezialisten. Dies ist eher ein populärwissenschaftlicher Beitrag, der sich um einfache Sprache bemüht und kein Vorwissen voraussetzt. Andererseits verspreche ich keine Rezepte, denen nur noch die Anwendung folgen muss.
Darum dieses Buch!
Dieses Buch inspiriert zum Nachdenken. Es fordert zur eigenen Arbeit, zur eigenen Überprüfung, Veränderung und Entwicklung des Führungsverhaltens auf und zeigt, welche Aspekte dabei zu beachten sind.
Ich bin der grundlegenden Auffassung, dass Führung eine Frage der persönlichen Einstellung ist. Selbstreflexion und Selbstpositionierung sind notwendig, um ein individuelles, wirksames Führungsverhalten zu entwickeln.
Mein zentrales Anliegen besteht darin, die aktuellen und zukünftigen Vorgesetzten in ihrer positiven Grundeinstellung zu ihren Mitarbeitern zu unterstützen und zu bestärken. Hierauf aufbauend wird es ihnen gelingen, ihre Mitarbeiter situationsgerecht, erfolgreich und mit Freude zu führen.
Gut oder böse? Etwas dazwischen!
Die Führungspraxis sieht, wie gezeigt wurde, eher düster aus. Gerade einmal einer von zehn Führungskräften wird ‚gute Führung‘ im Sinne eines ethisch einwandfreien, humanen Führungshandelns attestiert. Folgt man dem Grundgedanken des Führungskontinuums14, so kommt man zu dem Schluss, dass es auf der anderen Seite auch nur eine von zehn Führungskräften verdient, als wirklich ,schlecht‘ oder gar ,böse‘ bezeichnet zu werden. Zwischen diesen beiden Polen finden wir vielfältige Schattierungen, die sich allerdings, so bestätigt es die Gallup-Studie, tendenziell an dem inhumanen Pol zu orientieren scheinen. Spricht man solche Führungskräfte ‚aus der Mitte‘ auf inhumane Praktiken an, werden diese gern als selbstverständliche Notwendigkeiten attribuiert. Als Beispiele dienen einige der oft gehörten Ausflüchte:
• Wo gehobelt wird, da fallen Späne!
• Ein bisschen Druck hat noch niemandem geschadet!
• Nur unter großem Druck entstehen Diamanten!
• Man kann nicht immer Rücksicht nehmen!
• Wenn du nicht frisst, wirst du gefressen!
• Der Ehrliche ist der Dumme!
• Die anderen sind auch nicht besser!
• Der Erfolg heiligt die Mittel!
Mir ist klar, dass ich mit diesem Buch den Überzeugungstäter unter den ‚bösen‘ Managern kaum erreichen kann. Schlimmer noch: Mit einem ‚Bodensatz‘ böser Menschen im Management werden wir auch in Zukunft leben müssen, wenngleich es durchaus gelingen sollte, durch ein geeignetes Recruiting, das auch die ‚ethische Qualifikation‘ einbezieht, einen wichtigen Beitrag zum fairen Management zu leisten.
Orientierung?
Zu fragen bleibt aber vor allem, warum sich Manager ‚aus der Mitte‘, die sich weder als gut noch als böse bezeichnen würden, tendenziell stärker an Beispielen inhumaner Führung orientieren. Eine Schlüsselantwort darauf gibt die Enthüllung der fragwürdigen impliziten Werte der Betriebswirtschaftslehre. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass sich die deutliche Mehrzahl der Manager ‚aus der Mitte‘ an den durchaus vorhandenen guten Beispielen orientiert und mit Hilfe der nun vorliegenden ‚Anleitung zum fairen Management‘ ein Führungshandeln entwickelt, das auf der Grundlage einer humanen Einstellung aufbaut und ethischen Ansprüchen genügt.
1.2 Aufbau des Buches
Ein Führungsmodell der Anständigkeit
Mit diesem Buch wird der Leser eingeladen, die impliziten Werte der Betriebswirtschaftslehre zu erkennen und zu überdenken. Ich setze dieser Orientierung ein Leitbild entgegen, das auf einem menschenorientierten Wertegerüst gründet. Dabei stehen die Begriffe Wertschätzung,