Fettnäpfchenführer China. Anja Obst
Köstlichkeiten, es bleibt kaum Platz, das Glas mit heißem Wasser oder Tee abzustellen. Unsere Reisschalen müssen wir in den Händen halten. Das Gespräch ist fast verstummt. Die ganze Konzentration gehört dem bunten Essen vor uns. Eine halbe Stunde später ist der ›Kampf‹ beendet. Alle sind satt und zufrieden, viele Speisen sind noch übrig. Die Gastgeberin freut sich.
In China ist das Essen ›ergebnisorientiert‹. Nur der Geschmack und die Menge sind wichtig. In Deutschland dagegen ist ein gemeinsames Essen ›erlebnisorientiert‹. Da kommt es neben den Gerichten vor allem auf die Gesellschaft und die Unterhaltung an.
Nach dem Essen packen alle mit an und räumen die Reste zusammen. Innerhalb von zwanzig Minuten ist alles wieder sauber, auch der Tisch, der beim Essen natürlich nicht von Deckchen und Untersetzern geschützt war.
Die Gastgeberin serviert Tee und erneut entbrennt ein lautes Gespräch unter den Gästen. Als mich eine Freundin fragt, ob ich morgen mit ihr einkaufen gehen möchte, räume ich verdutzt ein, dass doch Sonntag sei. Genauso verdutzt entgegnet sie: »Na und?« Ich erinnere mich, in Peking gibt es kein Ladenschlussgesetz. Die Geschäfte sind bis spät in die Nacht und auch am Wochenende geöffnet.
Ich stelle fest, dass Deutschland nach vielen Jahren deutliche Spuren bei mir hinterlassen hat. Ich trinke kaltes Mineralwasser, habe Tischdecken und verwende Untersetzer. Und trotz lückenloser Stromversorgung zünde ich gerne Kerzen an. Sonntags ruhe ich mich aus, mein Auto wasche ich in der Woche, wenn ich mit dem Einkaufen fertig bin.
Meine chinesischen Freunde in Peking sind entsetzt, wenn ich nach einem opulenten Mahl einen eiskalten Jägermeister trinke. Ich finde das mittlerweile völlig normal.
Warum soll man eigentlich nicht die kulturellen Unterschiede nutzen, sich die schönsten heraussuchen und diese dann nach eigenen Wünschen kombinieren?
Mi, Song Diplom-Volkswirtin und GermanistinNovember 2012, Düsseldorf
SAG ES DURCH DIE BLUME
Die Überschriften der einzelnen Kapitel bestehen aus den in China sehr beliebten Redewendungen, sogenannten chéngyǔ. Sie haben meistens nur vier Silben, die als Metapher dienen und oft sehr blumig sind. Einige, wie gleich die erste Überschrift, sind wörtlich zu verstehen. Andere dagegen ergeben übersetzt eigentlich gar keinen Sinn. Ihre Bedeutung erschließt sich dem Hörer nur, wenn er die passende Legende dazu kennt. So gibt der schöne Ausdruck mǎmǎ hūhū, wörtlich übersetzt ›Pferd Pferd Tiger Tiger‹, vielen erst einmal Rätsel auf. Dass dahinter der Terminus ›nicht besonders‹ steckt, wird erst klar, wenn die Entstehungsgeschichte bekannt ist: Ein prähistorischer Maler steht vor seiner Kohlezeichnung, auf der sein Mitbewohner ein Pferd erkennt. Ein zweiter Höhlenmensch sieht aber einen Tiger. Nun streiten sich beide und wiederholen immer wieder ›Pferd, Pferd!‹, ›Tiger, Tiger!‹. Einig sind sie sich nur bei dem Talent des Künstlers: Das ist nicht besonders!
1
MÍNG BÙ XŪ CHUÁN
EINEN NAMEN ZU RECHT TRAGEN
名不虚传
Nach neun Stunden Flug ist Peter Auer froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein halbes Jahr Studium und Praktikum in Chinas Hautstadt Peking liegen vor ihm und er ist ganz aufgeregt. Und dank seiner, wenn auch noch recht dürftigen Chinesischkenntnisse, versteht er sogar die Ansage aus dem Lautsprecher: ›Herzlich willkommen auf dem Flughafen Peking, Terminal drei.‹
ÜBRIGENS
Lange Zeit, knapp 40 Jahre bis zum Jahr 1999, kam Peking mit nur einem Terminal aus. Steigende Zahlen von Touristen und Geschäftsleute machten einen Umbau notwendig, und es entstand Terminal 2, nur ein paar Meter um die Ecke. Mit dem Zuschlag, die Olympischen Spiele 2008 auszurichten, musste Peking die Infrastruktur ausbauen. Mittlerweile war die Zahl der Fluggäste von 20 Millionen im Jahr 2000 auch schon auf 54 Millionen im Jahr 2007 gestiegen. Um dem Ansturm der zu erwartenden Besucher gewachsen zu sein, baute Norman Foster das drachenförmige Terminal 3, welches im März 2008 den Passagieren seine Türen öffnete.
Oh Schreck, Terminal drei! Er soll doch abgeholt werden und hatte vergessen, Bescheid zu sagen, wo er landet. Dummerweise besitzt er weder eine Adresse, noch chinesisches Geld. Letzteres kann er zwar mit Sicherheit am Flughafen tauschen – aber wie soll er bloß seine Universität finden?
Noch grübelnd steigt Peter in die Flughafenbahn, welche die Passagiere von den Flugsteigen zur Ankunftshalle transportiert, sammelt dann sein Gepäck ein und geht zum Ausgang. Völlig verdutzt starrt er auf das Schild mit seinem Namen und dem dazugehörigen kleinen Chinesen.
»Hallo, ich bin Peter Auer«, sagt er auf Englisch.
»Guten Tag, ich bin Xiao Li«, kommt es in fast perfektem Deutsch zurück.
Peter kommt aus dem Staunen gar nicht heraus. Weder hat er die glückliche Fügung erwartet, einen Fahrer hier anzutreffen, noch dass dieser so gut Deutsch kann.
»Ich studiere Deutsch und Literatur an der Fremdsprachenuniversität Peking«, erklärt der Chinese und beschämt Peter sogleich. Hatte dieser ihn doch für einen Fahrer gehalten. Mit beiden Händen hält Xiao Li dem jungen Deutschen seine Visitenkarte hin, die Peter mit links – rechts trägt er seinen Koffer – annimmt und gleich in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Xiao Li schluckt kurz, ist jedoch höflich genug, Peter diesen ersten Fauxpas zu entschuldigen.
In China übergibt man Visitenkarten mit beiden Händen und empfängt sie auch ebenso. Außerdem darf man die Karte des Gegenübers nicht sofort wegpacken, sondern sollte sie erst einmal interessiert studieren, auch wenn das Interesse nicht so groß sein sollte. Der Kleine Li entschließt sich, dieses Verhalten auf Peters Unwissenheit zu schieben und übersieht die Taktlosigkeit.
Xiao Li lotst ihn zu einem wartenden Auto, und los geht Peters erste Fahrt in Peking.
»Woher wussten Sie eigentlich, an welchem Terminal ich lande?«, fragt Peter den neuen Kommilitonen.
»Ganz einfach«, antwortet Xiao Li, »jedes Terminal wird von festgelegten Fluggesellschaften angeflogen. Und da ich ja Ihre Flugnummer hatte, wusste ich, dass Sie auf T3 landen.«
Im wilden Zickzack um die anderen Verkehrsteilnehmer herum brausen sie auf der sechsspurigen Autobahn, die von kahlen Bäumen gesäumt ist, Richtung Stadt.
Peter fühlt sich erschlagen von den vielen Eindrücken. Die Regel, rechts fahren, links überholen, scheint hier nicht zu existieren. Jeder fährt, wo Platz ist und wo es am schnellsten erscheint. Die Fahrer nehmen dafür gerne in Kauf, dass sie fast sekündlich die Fahrbahn wechseln. Auch dass die Bäume alle wie mit dem Geodreieck angepflanzt sind, fällt dem Deutschen auf.
ÜBRIGENS
In Peking gibt es nur wenig natürlichen Baumbestand. Aus vielen Gründen, Platz- und Holzmangel sind nur zwei, wurden früher die meisten Bäume gefällt. Als man merkte, dass die Stadt immer mehr versandete, da keine Wurzeln die lose Erde festhielten, pflanzte man wieder neue Bäume. Und weil alles seine Ordnung haben musste, schön in Reih und Glied.
Das ständige Hupkonzert macht es Peter zudem schwer, sich auf die Erklärungen Xiao Lis zu konzentrieren. Xiao Li, genau! Plötzlich ist er neugierig, was denn eigentlich auf der Visitenkarte des Studenten draufstehen mag. Umständlich kramt er sie hervor und liest:
Li Caibo
Wissenschaftler für Sprache und Literatur
Fremdsprachenuniversität Peking
Danach folgen noch die Adresse und eine Telefonnummer. Komisch, denkt Peter, hatte er nicht gesagt, er hieße Xiao Li? Warum steht denn das Xiao hier gar nicht? Und merkwürdig, dass er sich mit dem Vornamen vorstellt und Sie sagt.