Fettnäpfchenführer China. Anja Obst

Fettnäpfchenführer China - Anja Obst


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beobachtet er, wie der Handwerker nun einen Splitter der Essstäbchen in das Loch drückt, ein Stück Leder darüber legt und dann die kunstvoll gebogene Münze passgenau in die Heizungsdelle einarbeitet. Das Ganze zurrt er mit einem Stück Draht fest und sagt freudestrahlend: »Fertig!«

      Zur Belohnung dürfen alle vier einmal auf dem Ball sitzen, was sie mit einem »hěn shūfu«, sehr bequem, quittieren.

      Ein letztes Mal blickt der Monteur auf sein kunstvolles Werk. Zum Glück, denn das Wasser hat sich bereits einen Weg gesucht und tropft wieder munter in die Auffangschüssel.

      Peter erinnert noch mal zaghaft an die Idee einer neuen Heizung, wird aber nur kopfschüttelnd um einen Zahnstocher gebeten. Der ersetzt nun die Splitter, Leder und Münze werden erneut darüber mit dem Draht festgezogen, und die zweite Warterunde verkürzen sich die Fünf mit dem Peter schon bekannten Fragenkatalog zu seiner Person.

      Nebenbei raucht jeder, bis auf Peter, noch eine Zigarette, die sie ungerührt auf dem Fußboden austreten.

       KEINE SORGE, LIEBER LESER, ...

      ... der Fußboden besteht aus blankem Beton. Teppiche sind in dieser Episode nicht zu Schaden gekommen. Und die scheinbare Respektlosigkeit, in jemandes Wohnzimmer Zigaretten auf dem Boden auszutreten, rührt schlicht von der Tatsache, dass es für Chinesen normal ist, in einigen Restaurants, Hotelzimmern, Zugabteilen oder auch den eigenen Wohnungen jeglichen Dreck auf den Boden zu werfen. Der Teppich hat sich als Auslegeware in China nicht überall durchgesetzt, Betonböden, Kacheln oder Laminat sind einfach pflegeleichter. Mit einem Wisch ist alles weg!

      Nach einer Viertelstunde hat sich noch immer kein Wassertröpfchen gezeigt, und die Operation wird als gelungen erachtet. Zufrieden mit sich ziehen die Handwerker von dannen, und Peter räumt das Schlachtfeld auf. Nicht nur die Kippen muss er wegräumen, auch Holzsplitter, Drahtreste und Papier der Zigarettenschachteln haben die Handwerker achtlos auf den Boden fallen lassen, ironischerweise direkt neben den Papierkorb.

      Lange währt die Freude über die erfolgreiche Reparatur allerdings doch nicht. Schon am nächsten Tag findet Peter eine kleine Pfütze unter der Heizung. Beim vierten Besuch im Wohnheimbüro lässt der Deutsche sich nicht mehr so schnell abweisen, und schließlich willigt die Wohnheimverwaltung dann doch ein, den ganzen Heizkörper auszutauschen.

      Stolze neunzehn Grad meldet jetzt Peters Thermometer. Und da ihm immer noch kalt ist, macht er es nun wie die Chinesen: Zwiebellook anziehen und heißen Tee trinken.

       Erfinderisches China

      Die Kreativität der Handwerker hat ihren Ursprung in der jüngeren Vergangenheit. Lange, bis in die 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, waren in China viele Dinge knapp. Man musste erfinderisch sein und sich manchmal auch mit notdürftigen Lösungen zufriedengeben. Niemand schmiss etwas weg, auch die rostigste Schraube fand irgendwann ihre neue Bestimmung.

      Selbst heutzutage ist der Chinese noch sparsam, sammelt und verfremdet Dinge, um eine Neuanschaffung zu umgehen. Auch wenn es mittlerweile fast alles im Überfluss gibt. In den Köpfen der jüngeren Generation ändert sich das langsam. Sie gönnen sich lieber einen neuen Wok, anstatt den Griff des alten mit Draht neu zu befestigen.

      Abgesehen von dem ökonomischen Motiv, sind die Chinesen aber von Natur aus ein schöpferisches Volk. Ihnen werden vielzählige Entdeckungen und Erfindungen zugesprochen. Die bekanntesten kennt jeder, Chinesen nennen sie sì dà fā míng, die vier großen Erfindungen.

      Dazu gehören das Papier (ca. 100 n. Chr. – wobei ich Sie bitten möchte, mich nicht auf diese und die folgenden Jahreszahlen festzunageln, jede Quelle macht andere Angaben), die Druckkunst (ca. 800 n. Chr.), das Schießpulver (ca. 1000 n. Chr.) und der Kompass (ebenfalls ca. 1000 n. Chr.).

      Doch schon lange vorher, um 7000 v. Chr., begannen die Asiaten, bemerkenswerte Innovationen zu entwickeln. Die Hemudu-Kultur zum Beispiel, die in der Provinz Zhejiang entstand, baute Reis an, züchtete Seidenraupen und soll sogar Lacke erzeugt haben. Das Hanfseil kommt ebenfalls aus China, und es gibt Hinweise, dass es schon 2800 v. Chr. in Benutzung war.

      Aufzeichnungen zufolge haben chinesische Ärzte schon 2000 v. Chr. ihre Patienten mit Akupunktur und Moxibustion behandelt. Auch bauten die Chinesen damals schon Bewässerungssysteme und Dämme. Und für die Große Mauer sollten bald, einigen Quellen zufolge, die ersten Grundsteine gelegt werden. (Wie bei den meisten Zeitangaben ist auch der Baubeginn der Chinesischen Mauer nicht wissenschaftlich erwiesen. Einige Quellen sprechen von 500 v. Chr., andere von 220 v. Chr., die Zeit, in der Chinas erster Kaiser Qin Shihuang regierte. Aber was sind schon 300 Jahre, wenn die Bauzeit schließlich doch 2.000 Jahre betrug?)

      Viele andere Utensilien, die wir heute noch nutzen, haben ihren Ursprung im alten China, wie zum Beispiel Porzellan, Geldscheine, Klopapier, Taschentücher oder die Schubkarre. Auch die Zahnbürste wurde im 15. Jahrhundert n. Chr. das erste Mal bei einem chinesischen Mönch in Benutzung gesehen.

      Eine weitere große Entdeckung war die Erfindung des Seismografen um 130 n. Chr. Der Astronom und Mathematiker Zhang Heng nahm dafür eine bewegungsempfindliche Vase, die zu acht Seiten mit jeweils einem Drachenkopf bestückt war, in deren Mäulern Kupferkugeln lagen. Unter den Mäulern saßen Frösche, die die Kugeln auffingen. In der Vase hing ein Pendel, welches im Falle eines Erdbebens hin und her schwang. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 138 n. Chr., dass seine Erfindung allgemeinen Zuspruch fand. Als nämlich eines Tage eine Kugel aus dem Drachenmaul fiel, lachten ihn erst einmal alle aus – ein Erdbeben hatte niemand mitbekommen. Ein paar Tage später kam allerdings die erstaunliche Nachricht, dass es in einer 500 Kilometer entfernten Stadt tatsächlich ein Beben gegeben hatte. Seitdem lachte niemand mehr und Zhang Heng wurde als großes Genie gefeiert.

      Es ist nie ganz sicher, wer wann welche Erfindungen hervorgebracht hat, und jeder schmückt sich mit Federn, die ihm vielleicht gar nicht zustehen. Bei Ausgrabungen wird so einiges gefunden, aber keiner weiß, ob nicht an anderer Stelle ein ähnlicher Fund noch vergraben liegt und sogar noch älter ist. In solch einen Fall ist die Nudel verstrickt: Lange galten die Italiener als die Erfinder der leckeren Spezialität, bis im Jahr 2005 ein Archäologenteam in der Stadt Lajia in der Provinz Qinghai eine unberührte Pastamahlzeit entdeckte, die 4.000 Jahre alt sein soll. Hat Marco Polo sie dann doch aus China mitgebracht und nicht umgedreht, wie die Italiener behaupten? Vielleicht kommt ein findiger Chinese ja auch bald hinter das Geheimnis von Zeitreisen, dann könnten diese Fragen endlich geklärt werden.

      4

       CHĪ HĒ WÁN LÈ2

      吃喝玩乐

      Gleich um die Ecke vom Campus gibt es eine kleine Straße mit vielen verschiedenen Restaurants. Ein paar neue Freunde aus der Universität warten schon auf Peter in einer der Gaststätten. Als er eintritt, empfängt ihn ein unglaublich lautes Stimmengewirr und dröhnendes Lachen. Dabei sind außer seinen vier Freunden nur noch ein Pärchen und eine Gruppe von Männern in dem Lokal. Wie können die so viel Lärm machen?

       ÜBRIGENS

      Es gibt ein wunderschönes Adjektiv in China, das heißt rènao und bedeutet ›lebhaft‹. Es spiegelt sehr schön die chinesische Mentalität wider. Ist es irgendwo zu ruhig, fehlt der Spaß. Die deutsche Gepflogenheit, sich flüsternd in einem Restaurant zu unterhalten, ist in chinesischen Etablissements regelrecht verpönt. Heiß, rè, und geräuschvoll, nao, muss es zugehen!

      Auch visuell ist Peter ein wenig geschockt: Helles Neonlicht blendet ihn von der Decke, der Boden ist übersät mit Essensresten und die Bestuhlung aus Plastik sieht alles andere als einladend aus.

      Rauchschwaden, die aus der Männerecke kommen, wabern durch das ganze Restaurant, eine Kellnerin mit einem vollen Teller rauscht an ihm vorbei, ohne den Neuankömmling


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