Fettnäpfchenführer China. Anja Obst

Fettnäpfchenführer China - Anja Obst


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Bestellung begonnen haben. Schnell greift er zur Speisekarte, um etwas für sich auszusuchen. Glücklicherweise sind die Gerichte auch auf Englisch übersetzt. Tippfehler, bei denen das Schweinefleisch mit frischem Müll (garbage statt cabbage) gereicht wird oder es statt eines Erfrischungsgetränks Sprit gibt, kann Peter leicht entziffern. Bei etwas blumigeren Übersetzungen steht er jedoch wie der Ochs vorm Berg. Was bitte ist ›Rutschiges Fleisch in des Kaisers Gemüsekissen‹? Oder ein ›Huhn ohne Sexualleben‹?

      Jason, ein Amerikaner, der schon seit fast einem Jahr in Peking ist, klärt Peter über Letzteres auf: »Das ist tóngzǐ jī, und bedeutet einfach, dass es ein ganz junges Huhn ist. Tóng bedeutet aber auch jungfräulich oder unberührt, daraus wird schnell mal ein sexloses Leben.«

      Als Peter sich gerade mutig fühlt und es bestellen will, nimmt ihm die Kellnerin die Karte auch schon weg und geht. Als er zum Protest ansetzt, beruhigt ihn Jason: »Wir haben schon genug bestellt.« Unter anderem auch eine Suppe, über die Peter sich bei den kalten Temperaturen besonders freut. Selbst im Restaurant haben alle noch ihre Jacken an.

       ÜBRIGENS

      Schon der Beginn eines simplen Abendessens mit Chinesen kann Verwirrung stiften. In China bestellt niemand ein einzelnes Gericht nur für sich. Einer, meist der Gastgeber, schnappt sich die Karte und ordert für alle ein buntes Sammelsurium an Gerichten. Diese werden dann auf großen Tellern serviert und in die Mitte gestellt, sodass jeder gut herankommt.

      In vielen Restaurants gibt es aus diesem Grund runde Tische mit einer Drehscheibe, mit der man nach Belieben die Gerichte zu sich drehen kann. Meist wird sie entgegen des Uhrzeigersinns gedreht – es gibt aber keinen Aberglauben, der die andere Richtung verbietet.

      Als Erstes bekommen die Fünf allerdings ein kaltes Gurkengericht. Die ungleichen Gurkenteile sehen aus, als ob jemand sie aus lauter Wut kaputt geschlagen hätte. Peter wartet auf einen eigenen Teller, aber Jasons chinesische Freunde beginnen gleich, ohne einen guten Appetit zu wünschen, mit ihren Stäbchen danach zu angeln. Laut schmatzend unterhalten sie sich weiter, die Gurkenstückchen im Mund gut sichtbar.

      Da kein Teller kommt, dafür das nächste Gericht, fängt auch Peter schnell an zu essen, bevor alles weg ist. Beim ersten Biss in das kross gebratene Hühnchen spürt Peter gleich den kleinen Knochen. Das ganze Gericht besteht praktisch nur aus, wenn auch sehr schmackhaften, Hühnerknochen. Doch wohin damit? Runterschlucken? Peter tut so, als ob er noch genüsslich kaut, um abzuwarten, wie die Chinesen das Problem lösen. Mit einigem Entsetzen muss er aber zusehen, wie diese die abgenagten Knöchelchen einfach auf den Boden spucken. Oder direkt auf den Tisch. Das erlaubt ihm seine Kinderstube nun aber doch nicht, und so pult er sich den Knochen mit den Fingern aus dem Mund und legt ihn auf eine Serviette.

       ÜBRIGENS

      Da die wenigsten Restaurants Tischdecken oder Teppichböden haben, ist das Ausspucken von Knochen nichts Besonderes. Sie lassen sich schnell und einfach zusammenkehren. Dass wir es befremdlich finden, liegt daran, dass unsere Eltern uns ein anderes Benehmen beigebracht haben. In China wird niemand missbilligend gucken, wenn Sie Ungenießbares im hohen Bogen auf den Boden befördern, außer natürlich Sie sind in einem sehr noblen Restaurant.

      Da probiert er doch lieber von dem Ei mit Tomate, das gerade gebracht wird. Es ist nicht so einfach, das glitschige Rührei auf die Stäbchen zu kriegen, und beim ersten Versuch fällt es auch glatt auf den Tisch. Beherzt versucht er es wieder, als sein Sitznachbar laut auf ihn einredet.

      »Du solltest nicht vom Tisch essen«, übersetzt Jason, »der ist dreckig.«

      Wie zum Beweis kommt die Kellnerin in dem Moment mit einem grauen Lappen daher und befreit den Nachbartisch von ausgespuckten Resten, die sie einfach auf den Boden fallen lässt. Den Lappen klemmt sie wieder, so wie er ist, an ihre Schürze. Mittlerweile hat ihm sein Nachbar schon ein großes Stück Ei mit Tomate auf ein kleines Tellerchen gelegt.

       ÜBRIGENS

      Mit dieser Geste, die besten Stückchen eines Gerichts auf den Teller des anderen zu legen, zeigt der Chinese seine Achtung und Freundschaft. Schwierig wird es, wenn der hoch angesehene Hühnerfuß auf Ihrem Teller landet und Sie vielleicht diese Köstlichkeit nicht so wertschätzen. Wenn Sie es schaffen, knabbern Sie ein wenig dran und lassen ihn dann einfach liegen. Ohne Knabbern geht zur Not auch, viele Chinesen wissen mittlerweile, dass die Geschmäcker verschieden sind.

      Die Tellerchen hatte Peter gar nicht bemerkt. Dankbar lächelt er den Chinesen an und kann endlich probieren. Dass das Ei gezuckert ist, hatte er allerdings nicht erwartet.

      Glücklicherweise steht noch eine Vielzahl anderer Gerichte auf dem Tisch, die weder mysteriös noch schwer zu essen scheinen. Und, wie er bald herausfindet, zudem köstlich sind. Ihm vergeht nur kurz der Appetit, als er seinen Gegenüber beobachten muss, wie der sich mit seinem langen Fingernagel Fleischreste aus den Zahnritzen herausklaubt, sie betrachtet und dann wieder genüsslich in den Mund steckt.

      Ablenkung naht zum Glück in Form der Suppe. Die Kellnerin schöpft für jeden ein Schälchen und stellt es vor die Gäste. Dazu bekommt jeder einen unförmigen Porzellanlöffel, der kaum in den Mund passt. Muss er auch nicht, wie Peter feststellt, denn alle, einschließlich Jason, schlürfen lautstark die Suppe aus den Löffeln. Dass danach jeder nach Herzenslust rülpst, schockiert Peter nun gar nicht mehr. (Schlürfen ist übrigens nicht nur salonfähig, sondern sogar erwünscht. Denn erst mit der eingesogenen Luft zusammen entfaltet die Suppe ihren ganzen Geschmack.)

      Ein gewisses Sättigungsgefühl stellt sich schließlich ein, und Peter hofft inständig, dass nicht noch mehr Gerichte aufgetischt werden. Die meisten Platten sind noch nicht mal zur Hälfte leer gegessen.

       ZUM GLÜCK, ...

      ... denn alles aufzuessen bedeutet in China, dass es gerade so gereicht hat oder sogar zu wenig war. Um dem vorzubeugen, bestellen die Chinesen meist viel mehr, als man essen kann. Was wir als Verschwendung betrachten, gehört in China zum guten Ton. Jemand, der zu wenig bestellt, ist ein alter Geizkragen.

      Da kommt auch schon wieder die Kellnerin und stellt jedem eine Schüssel Reis hin. Hm, ein bisschen spät, denkt Peter, wir sind ja eigentlich schon fertig.

      Jason sieht den überraschten Blick von Peter und lacht: »Hast du nicht gewusst, dass der Reis zum Schluss kommt?«

      Peter schüttelt den Kopf.

      »In vielen westlichen Ländern wird eine Suppe als Vorspeise serviert«, fährt Jason fort, »der Reis ist Beilage zum Hauptgericht. In China aber ist die Suppe das Schlusslicht. Und der Reis«, Jason macht eine theatralische Pause, »der Reis ist nur noch ein Füller, falls du nicht satt geworden bist. Und wenn du den Reis gar aufisst, bedeutet es entweder, dass dir das ganze Essen nicht geschmeckt hat – oder es nicht genug war.«

      Peter, der schon ein wenig von dem Reis gegessen hat, lässt erschrocken die Stäbchen sinken. Nein, Hunger hat er wirklich keinen mehr. Er wollte höflich sein, nach deutscher Art, und nichts stehen lassen. Und stand damit kurz davor, den Gastgeber bloßzustellen. Welch’ verkehrte Welt!

      Zwei der Chinesen haben sich bereits eine Zigarette angezündet – was der eine übrigens auch schon während des Essens gemacht hatte, ohne zu fragen, ob es stört, und sogar ohne mit dem Essen aufzuhören.

      Jason winkt der Kellnerin, die sofort mit der Rechnung kommt. Peter zückt sein Portemonnaie und teilt im Kopf die Summe durch fünf. Am Tisch ist ein kleiner Streit losgebrochen, jeder zerrt an der Rechnung. Jason gibt erst nach, als der eine Chinese aufsteht und ihn böse anschaut.

      Peter wird mucksmäuschenstill und versteht die Welt nicht mehr. Wie kann er auch ahnen, dass Rechnungen nicht geteilt werden und Gäste nicht bezahlen dürfen. Auch wenn Jason die Initiative zu dem Essen ergriffen hatte, so sind er und Peter in den Augen der Chinesen Gäste. Unter Chinesen zahlt hingegen meist der, der eingeladen hat.

      Das Einzige, womit Peter sich trösten kann, ist, dass dieses üppige Mahl den Chinesen finanziell nicht ruinieren wird:


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