Fettnäpfchenführer Vietnam. David Frogier de Ponlevoy
in Vietnam etwas sehr klein sind – die Einheimischen können, was die Bodennähe betrifft, locker noch eins draufsetzen: Sie setzen sich ohne Stuhl hin. In einer tiefen Hockstellung, die Fußsohlen flach am Boden, die Knie- und Hüftgelenke maximal gebeugt, mit dem Po knapp über dem Boden schwebend. Stundenlang können sie entspannt in dieser Position verharren; und die Vietnamesen sind damit längst nicht alleine, tatsächlich wird diese Stellung oft als »Asian Squat« bezeichnet.
Falls Sie es nach dem Lesen dieses Abschnittes nicht sowieso schon getan haben (und dieses Buch nicht gerade im Bus, im Bundestag oder auf dem Klo lesen): Versuchen Sie’s! Wahrscheinlich werden Sie feststellen, dass wir Europäer für diese Stellung irgendwie schlecht gebaut zu sein scheinen.
Der YouTube-Channel Asian Boss, der regelmäßig zwischen China und Indien, von Japan über Thailand bis Singapur als Asien-Erklärbär unterwegs ist, ging diesem Rätsel auf die Spur und testete auf der Straße sowohl junge Koreaner wie auch Westler in ihrer Hocktauglichkeit. Und tatsächlich purzelten die Westler beim Versuch, sich auf diese Weise hinzuhocken, nach hinten um, während die meisten Asiaten diese Stellung problemlos meistern konnten. »Vielleicht haben Westler dafür zu dicke Hintern?«, rätselte eine Koreanerin.
Auch zwei französische Videoblogger hatten sich für ihren YouTube-Channel Xinshidandan in Montpellier umgehört und Einheimische gebeten, sich doch bitte mal asiatisch hinzuhocken. Auch hier sah es auf dem Boulevard aus wie auf einer Kegelbahn; der einzige Franzose, der die Stellung hinbekam, strotzte nur so vor Sportlichkeit. Der Zeitung Taiwan News war diese Sensation einen langen Artikel wert, nachdem das Video dort einen viralen Status erreicht hatte.
In Vietnam ist die Stellung allgegenwärtig, auf dem Markt, in der Motorroller-Werksstatt, beim Kochen, Abwaschen, Pause machen. Manchmal sieht man auch Vietnamesen, die im Flugzeug oder im Café auf dem Stuhl in die Hockstellung wechseln, wenn ihnen das Sitzen zu unbequem wird. Schon in den Kindergärten ist das Hocken präsent. Und dies ist wohl der springende Punkt: Die meisten Kinder, auch im Westen, können hocken.
Jede Menge schlauer Leute rund um den Globus haben versucht, dieses Phänomen zu erklären, mit einer Hingabe, bei der man vor lauter Formeln und Variablen nicht mehr weiß, ob es noch hockwissenschaftliche Hochwissenschaft oder schon hochwissenschaftliche Hockwissenschaft ist. Aber so viel wird klar: Die Hockfähigkeit ist empirisch belegbar äquivalent mit der Frage, wie beweglich das Fußgelenk ist. Der amerikanische Physiotherapeut Bryan Ausinheiler – offenbar ein vor Nichts zurückschreckender Hock-Nerd – hatte gemessen, wie weit seine einen Tag alte Tochter ihre Füßchen Richtung Schienbein klappen kann. Das Baby habe es auf einen Winkel von 70 Grad gebracht, wohingegen der durchschnittliche ausgewachsene Westler gerade mal 30 Grad schaffe. Fazit: Wir alle sind geborene Hocker, nur verlernen manche von uns diese Fähigkeit im Lauf der Zeit.
Häufig in direkten Zusammenhang gebracht mit der verloren gegangenen natürlichen Hocke wird die Verbreitung des Sitzklos, die uns Westlern angeblich die ganze, Verzeihung, Scheiße erst eingebrockt hat. In vielen Teilen Asiens dagegen sind nämlich Squat Toilets gebräuchlich. Und wer sich auch immer die deutsche Bezeichnung »Stehklo« dafür ausgedacht hat, hat entweder noch nie eines benutzt, dessen Prinzip auf fatale Weise missverstanden, komplett degenerierte Fußgelenke, oder war sonst wie völlig verkrampft.
Auch wenn Sitzklos in Asien immer häufiger anzutreffen sind: Auf international und multikulturell frequentierten Toiletten sieht man weltweit des Öfteren ein Verbotsschild, auf dem ein Strichmännchen den beeindruckenden Balanceakt vollbringt, mit den Füßen auf der Klobrille zu hocken.
Verübeln kann man es dem Strichmännchen aber eigentlich nicht, denn glaubt man der Internetseite darmhilfe.de, so verursachen unsere Sitztoiletten einen »schleichenden aber erbarmungslosen Schaden« an Darm und Becken. Aber keine Panik, auch wenn Sie jetzt zufällig weder asiatisch sind noch solch ein Alltags-Ninja wie der fitte Franzose aus dem Video – mit ein bisschen Yoga können auch Sie den äußerst rücken- und verdauungsfreundlichen Asian Squat wieder lernen; dort heißt die Stellung »Malasana« oder »tiefe Hocke«. Alternativ können Sie auch professioneller Gewichtheber werden: Die hocken nämlich auch.
Generell empfiehlt sich auch Vorsicht bei Eiswürfeln. Das Einfrieren von Wasser vermag nicht alle Krankheitskeime abzutöten, und vietnamesisches Leitungswasser entspricht nicht deutschen Hygienevorstellungen. Manche vietnamesischen Familien und Restaurants bauen sich eigene Wasserfilter in die Küche ein, die meisten dieser modernen Filter arbeiten mit Umkehrosmose. Häufiger wird das Leitungswasser aber vor dem Gebrauch einfach abgekocht.
Eine Studie des Londoner Tropeninstituts stellte vor einigen Jahren fest: »Das Wissen über Hygiene ist relativ hoch – die praktischen Folgen daraus aber sehr gering.« Noch immer waschen sich viel zu wenige Menschen die Hände, und die Wissenschaftler kamen in Interviews zu der Erkenntnis, dass viele Vietnamesen dies offenbar nur dann tun, wenn die Hände tatsächlich sichtbar dreckig sind. In vietnamesischen Büro- und Restauranttoiletten sind Seifenspender häufig leer, und eine Möglichkeit zum sauberen Händetrocknen fehlt. Wer möchte, kann unterwegs ein Fläschchen Handdesinfektionsmittel mitbringen, das es in Supermärkten zu kaufen gibt.
Vietnamesen putzen ihre Stäbchen und Schälchen vor dem Essen oft mit trockenen Papierservietten nach. Ähnlich ritualhaften Charakter hat die Angewohnheit, Gläser vor dem Trinken kurz mit einem kleinen Schuss des Getränks auszuspülen und dann auf den Boden zu kippen. Das trägt nicht zur Sauberkeit des Bodens bei, befreit die Gläser und Tassen aber von Staub. Übrigens befinden sich auch in den weitverbreiteten Essenszutaten wie Limette, Essig, Ingwer oder Galgant Inhaltsstoffe, die in geringem Maße bakterienund entzündungshemmend wirken. Ein Hinweis darauf, dass diese Zutaten im Laufe der Jahrhunderte nicht allein wegen ihres Geschmacks den Weg in traditionelle Rezepte gefunden haben.
David mag besonders gerne phở mit halb garem Rindfleisch und glaubt, dass Eiswürfel, die eine gleichmäßige Form haben, vertrauenerweckend sind, weil sie aus der Eismaschine stammen müssen. Er hat sich in acht Jahren Vietnam nur zweimal eine schwere Magen-Darm-Erkrankung zugezogen und hält das für eine akzeptable Quote. Außerdem ist er überzeugt, dass mindestens eine davon aus einem sehr teuren, westlich angehauchten Restaurant stammt.
Anemi ernährt sich im Wesentlichen von der Cholesterinbombe bún chả und starkem vietnamesischem Kaffee mit viel gesüßter Kondensmilch. Zudem ist es ihr im Nachhinein ein Rätsel, wie sie so lange ohne bún bò Huế leben konnte. Ab und an wird sie von dem heimgesucht, was im Volksmund der in Hanoi lebenden Ausländergemeinschaft 24-hour bug genannt wird: Man kotzt sich ein paar Stunden lang die Seele aus dem Leib, und am nächsten Tag ist wieder alles gut.
Ein Wort zum Bestellen in Straßenküchen: Sehr häufig sind solche Straßenrestaurants spezialisiert und bieten tatsächlich nur ein einziges Gericht an – deswegen gibt es auch keine Speisekarte. Was es zu essen gibt, steht stattdessen groß über dem Lokal. Erwähnt werden müssen allenfalls kleinere Variationen: Manche Vietnamesen essen ihre phở gerne mit Sehnen oder Kutteln. Eine beliebte Beigabe ist außerdem das frittierte Teigstück quẩy, das die Form eines Hundeknochens hat. Man tunkt es in die Brühe, um es aufzuweichen.
Wenn Sie sich in Straßenküchen besonders street smart aufführen wollen, greifen Sie, wenn das Essen serviert wird, zwei Stäbchen aus dem Behälter, halten diese kurz nebeneinander und prüfen mit Kennermiene, ob sie A) gleich lang und B) nicht krumm sind.
Lange Nudeln mit Stäbchen und Löffel zu essen, ist eine Kunst für sich. So machen es die Vietnamesen: Die Nudeln mit den Stäbchen fassen und entweder mit dem Löffel unterstützen oder die Nudeln ganz auf den Löffel legen. Oder, bei großer Eile, die Nudeln einfach schlürfend in den Mund ziehen. Nudeln abzubeißen gilt vor allem unter älteren Vietnamesen als böses Omen für ein kurzes Leben.
Phở-Blogger Cường ist ebenfalls Abbeißgegner, allerdings aus anderen Gründen: »Mir geht es nicht um den Aberglauben. Wenn man Nudeln abbeißt, werden die Nudeln in der Schüssel immer kürzer. Am Ende hat man lauter sehr kurze Stücke in der Suppe schwimmen. Das ist für phở-Enthusiasten