Unrast. Olga Tokarczuk
keine. Er kehrt zum Hauptmenü zurück, auf dem Bildschirm leuchtet kurz ein Muster auf und erlischt.
Ein angebrochenes Päckchen Papiertaschentücher. Ein Bleistift, zwei Kugelschreiber: der eine ein gelber Wegwerfstift, der andere mit der Aufschrift »Hotel Mercure«. Kleingeld, Groschen und Eurocent. Das Portemonnaie, darin ein paar kroatische Banknoten, zehn polnische Zloty. Eine Visakarte. Ein oranges Zettelblöckchen, etwas angeschmutzt. Eine Anstecknadel aus Kupfer mit antikem Muster, sie sieht kaputt aus. Zwei Bonbons. Eine Digitalkamera in schwarzem Etui. Ein Nagel. Eine weiße Klammer. Ein Kaugummistaniol. Krümel. Sand.
Alles breitet er vorsichtig auf der mattschwarzen Tischfläche aus, alle Gegenstände im gleichen Abstand voneinander. Er geht zum Wasserhahn, trinkt Wasser. Kehrt zurück zum Tisch und zündet sich eine Zigarette an. Dann macht er sich daran, mit ihrem Apparat zu fotografieren. Jeden Gegenstand einzeln. Er fotografiert langsam, mit Hingabe, aus geringstmöglicher Distanz, mit Blitz. Er bedauert nur, dass er sich mit dem kleinen Apparat nicht selbst fotografieren kann. Er ist auch ein Beweisstück in diesem Fall. Dann geht er in den Flur, wo die Taschen und Koffer stehen, knipst von jedem Gegenstand ein Bild. Doch dabei lässt er es nicht bewenden, er packt die Koffer aus und fotografiert jedes Kleidungsstück, jedes Paar Schuhe, jede Cremetube, jedes Buch. Die Spielsachen des Kleinen. Er schüttelt sogar die Schmutzwäsche aus der Plastiktüte und macht ein Foto von dem unförmigen Haufen.
Er findet eine kleine Flasche Rakija und trinkt sie, den Fotoapparat in der Hand, auf einen Zug aus, dann macht er ein Bild von der leeren Flasche.
Es ist schon hell, als er sich mit dem Auto in Richtung Vis aufmacht. Er hat die vertrockneten Brote dabei, die sie für die Reise zurechtgemacht hatte. In der Hitze war die Butter geschmolzen, hatte die Brotscheiben mit glänzendem Fett getränkt, der Schnittkäse ist hart geworden und halb durchsichtig wie Plastik. Er isst zwei Brote bei der Ausfahrt aus Komiża, die Hände wischt er an der Hose ab. Er fährt langsam und vorsichtig, schaut rechts und links, achtet auf alles, an dem er vorbeifährt, er ist sich bewusst, dass er Alkohol im Blut hat. Aber er fühlt sich stark und zuverlässig wie eine Maschine. Er schaut sich nicht um, obwohl er weiß, dass dort, in seinem Rücken, das Meer immer größer wird. Die Luft ist so klar, dass man vom höchsten Punkt sicher bis zur italienischen Küste sehen kann. Vorläufig hält er sich an die Buchten und schaut sich jede Kleinigkeit genau an, jedes Papierchen, jedes Stück Abfall. Er hat auch Brankos Fernglas mit, damit mustert er die Küstenfelsen. Er sieht die steinigen Hänge, auf denen strohig verdorrtes, grau gewordenes Gras wächst, er sieht die unverwüstlichen Disteln, von der Sonne dunkel verfärbt, die sich mit ihren langen Trieben krampfhaft festklammern. Die mickrigen verwilderten Olivenbäume mit ihren gewundenen Stämmen, die Steinmauern, die von aufgegebenen Weingärten noch übrig geblieben sind.
Etwa eine Stunde fährt er nach Vis hinab. Er fährt langsam wie eine Polizeistreife, an dem kleinen Supermarkt vorbei, wo sie eingekauft haben, vor allem Wein, und bald ist er in der Stadt.
Die Fähre liegt schon am Hafen vertäut. Sie ist riesig, groß wie ein Mietshaus, ein schwimmender Wohnblock. Die »Poseidon«. Die großen Tore sind geöffnet, eine Reihe Autos mit verschlafenen Passagieren stehen schon Schlange, um in diese gähnende Höhle zu fahren, gleich werden sie eingelassen. Kunicki bleibt an der Barriere stehen und betrachtet die Gruppe von Leuten, die Fahrkarten kaufen. Einige haben Rucksäcke dabei, darunter auch ein schönes Mädchen mit einem bunten Turban auf dem Kopf. Er schaut sie an und kann den Blick nicht von ihr losreißen. Neben dem Mädchen steht ein großer, skandinavisch-gutaussehender Junge. Frauen mit Kindern stehen dort, wahrscheinlich Einheimische, sie haben kein Gepäck, ein Mann im Anzug und mit Aktentasche. Ein Paar – die Frau hat die Augen geschlossen und den Kopf an seine Brust gelehnt, als wollte sie versäumten Schlaf einer zu kurzen Nacht nachholen. Und ein paar Autos: eines mit deutscher Nummer, das bis unters Dach beladen ist, zwei italienische. Und Lieferwagen vom Ort, die Brot, Gemüse, Post holen. Die Insel muss leben. Kunicki wirft verstohlene Blicke in die Autos.
Schließlich setzt sich die Schlange in Bewegung, die Fähre verschluckt Menschen und Autos, niemand protestiert, sie gehen hinein wie die Lämmer. Eine Gruppe von fünf französischen Motorradfahrern kommt an, sie sind die Letzten, die gehorsam im Schlund der Poseidon verschwinden.
Kunicki wartet, bis sich die Tore mit mechanischem Knirschen schließen. Der Fahrscheinverkäufer knallt sein Fenster zu und kommt heraus, um eine Zigarette zu rauchen. Sie sind beide Zeugen, wie die Fähre mit plötzlichem Getöse vom Ufer ablegt.
Er sagt, er suche eine Frau und ein Kind, zieht ihren Pass aus der Tasche und hält ihn dem anderen unter die Nase.
Der Fahrscheinverkäufer blickt auf das Bild im Pass, er beugt sich darüber. Dann sagt er etwas auf Kroatisch, das sich ungefähr anhört wie:
»Die Polizei hat schon nach ihr gefragt. Hier hat sie keiner gesehen.« Er zieht an seiner Zigarette und setzt hinzu: »Das ist ja keine große Insel, man würde sich an sie erinnern.«
Unvermittelt legt er Kunicki die Hand auf die Schulter, als wären sie alte Bekannte.
»Kaffee? Trinkst du einen Kaffee?«, mit dem Kopf nickt er in Richtung des kleinen Cafés am Hafen, das gerade aufgemacht hat.
Ja, Kaffee. Warum nicht?
Kunicki setzt sich an den Tisch, der andere kommt kurz darauf mit zwei doppelten Espressi. Sie trinken schweigend.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt der Fahrscheinverkäufer. »Hier kann man nicht verloren gehen. Hier sind wir alle sichtbar wie auf einem Präsentierteller.« Das sagt er und zeigt dabei seine von dicken Linien durchzogene Handfläche. Danach holt er ihm ein Brötchen mit Frikadelle und Salat. Schließlich geht er und lässt Kunicki mit dem halb ausgetrunkenen Kaffee allein. Als er fort ist, entringt sich Kunicki ein kleines Schluchzen, es ist wie ein Stück Brötchen, er schluckt es herunter, es schmeckt nach nichts.
Er kann die Vorstellung nicht abschütteln, dass sie sichtbar sind wie auf einem Präsentierteller. Für wen? Wer soll auf sie alle hinabblicken, auf diese Insel im Meer, die Asphaltstraßen, die sich wie Fäden von einem Hafen zum anderen ziehen, die paar Tausend in der Hitze zerfließenden Menschen, Einheimische und Touristen, die alles in Bewegung halten. Bilder von Satellitenaufnahmen fallen ihm ein, angeblich kann man auf ihnen die Aufschrift auf einer Streichholzschachtel erkennen. Ob das möglich ist? Bestimmt kann man von dort auch seinen Glatzenansatz sehen. Der große kühle Himmel voll mit den beweglichen Augen der ruhelosen Satelliten.
Auf dem Rückweg zum Auto nimmt er den Pfad über den kleinen Friedhof neben der Kirche. Alle Gräber sind wie in einem Amphitheater dem Meer zugewandt, also haben die Toten einen Blick auf das langsame, sich ständig wiederholende Leben im Hafen. Bestimmt freut sie die weiße Fähre, vielleicht halten sie sie sogar für einen Erzengel, der die Seelen auf ihrer himmelhohen Überfahrt eskortiert.
Kunicki fällt auf, dass sich wenige Namen immer wiederholen. Die Leute hier sind wahrscheinlich wie diese Katzen, sie bleiben unter sich, verkehren in einem kleinen Kreis von Familien, selten heiratet einer in die Fremde. Er bleibt nur einmal stehen, als er einen kleinen Grabstein sieht, auf dem zwei kurze Zeilen stehen:
Zorka 9 II 21–17 II 54
Srečan 29 I 54–17 VII 54
Einen Augenblick lang sucht er in diesen Daten eine algebraische Ordnung, sie sehen aus wie ein Code. Mutter und Sohn. Eine in den Daten enthaltene Tragödie, die in Etappen stattgefunden hatte. Eine Stafette.
Da hört die Stadt auch schon auf. Er ist müde, die Hitze hat ihren Höhepunkt erreicht, der Schweiß läuft ihm in die Augen. Als er mit dem Auto wieder ins Innere der Insel hinauffährt, sieht er, dass die scharfe Sonne sie in die abweisendste Gegend der Erde verwandelt. Die Hitze tickt wie eine Zeitbombe.
Auf der Polizei serviert man ihm ein kaltes Bier, als wollte man unter dem weißen Schaum die eigene Ratlosigkeit verbergen. »Keiner hat sie gesehen«, sagt der massige Beamte und dreht den Ventilator höflich in Kunickis Richtung.
»Was sollen wir machen?«, fragt er den Polizisten, der an der Tür steht.
»Ruhen Sie sich etwas aus«, sagt der.
Aber