Unrast. Olga Tokarczuk

Unrast - Olga Tokarczuk


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dann bleibt er plötzlich mitten im Brombeerdickicht stehen, erstarrt, als hätte sein Körper im Bücken nach einem Brombeerstrunk wider Willen einen neuen Mittelpunkt seines Gleichgewichts gefunden. Das Summen der Fliegen und ein Dröhnen im Kopf begleiten die Stille. Einen Augenblick lang sieht er sich selbst von oben: ein Mann in alltäglichen Khakihosen und weißem Hemd, mit einer kleinen Glatze oben auf dem Kopf, der in dem kleinen, niedrigen Dickicht steht, ein Eindringling, ein Gast in einem fremden Haus. Ein dem Beschuss ausgesetzter Mensch, ein Ausgelieferter genau in der Mitte eines vorübergehenden Waffenstillstands in der Schlacht, in die der glühende Himmel und die schrundige Erde verstrickt sind. Angst überfällt ihn, er möchte sich sofort verstecken, im Auto verkriechen, doch sein Körper ignoriert ihn, er kann die Beine nicht rühren, kann sie nicht zwingen, sich in Bewegung zu setzen. Nur einen Schritt tun – er hat das nie für so schwer gehalten, die Übertragungsleitungen sind gerissen. Sein Fuß in der Sandale ist ein Anker, der ihn auf der Erde hält, er steckt fest. Konzentriert, mit Mühe, über sich selbst erstaunt zwingt er ihn zur Bewegung. Anders kann er diesen glühenden grenzenlosen Raum nicht verlassen.

      Sie waren am 14. August angekommen. Die Fähre von Split war voll besetzt, ziemlich viele Touristen, aber die meisten waren Einheimische, die auf dem Festland eingekauft hatten, denn dort war es billiger. Auf den Inseln gibt es nicht viel anzubauen. Die Touristen ließen sich leicht erkennen, denn als sich die Sonne anschickte, unweigerlich ins Meer zu versinken, gingen sie alle nach Backbord und richteten ihre Objektive auf sie. Die Fähre passierte langsam die verstreuten Inseln, dann sah es kurze Zeit so aus, als führe sie aufs offene Meer hinaus. Ein unangenehmes Gefühl, einen ganz kurzen, unbedeutenden Augenblick lang machte sich Panik bemerkbar.

      Problemlos fanden sie ihre direkt am Meer gelegene Pension namens »Poseidon«. Der Besitzer, der bärtige Branko in einem Hemd mit Muschelmuster, ließ sich gleich beim Vornamen nennen und klopfte Kunicki vertraulich auf die Schulter, während er sie in den ersten Stock des Hauses führte und stolz die Wohnung präsentierte. Sie hatten zwei Schlafzimmer zur Verfügung, eine kleine, traditionell eingerichtete Küchenecke mit Schränken aus laminiertem Pressspan. Aus den Fenstern sah man direkt auf den Strand und das offene Meer. Unter einem Fenster war eine Agave erblüht, die Blüte saß auf dem starken Stängel und reckte sich triumphierend über das Wasser.

      Er nimmt eine Karte der Insel hervor und erwägt die Möglichkeiten. Vielleicht hatte sie die Orientierung verloren und war einfach an einer anderen Stelle auf die Fahrstraße gestoßen. Bestimmt steht sie woanders, stoppt vielleicht sogar ein Auto und fährt damit weg – aber wohin? Er sieht auf der Karte, dass die Landstraße auf Vis in einer gewundenen Linie über die ganze Insel führt und dass man darauf die Insel durchqueren kann, ohne einmal ans Meer zu kommen. So hatten sie selbst vor ein paar Tagen eine Tour über Vis gemacht. Er legt die Karte zu ihrer Tasche auf den Beifahrersitz und fährt los. Er fährt langsam, hält zwischen den Olivenbäumen nach ihnen Ausschau. Doch etwa nach einem Kilometer ändert sich die Landschaft, die Olivenhaine weichen steinigem Ödland, das mit trockenem Gras und Brombeergestrüpp bedeckt ist. Die weißen Kalksteinbrocken sind schartig wie Riesenzähne, die irgendein wildes Geschöpf hier verloren hat. Nach einigen Kilometern kehrt er um. Zu seiner Rechten sieht er jetzt verblüffend grüne Weingärten, in denen hier und da kleine Gerätehütten aus Stein stehen – alles leer und düster. Im besten Fall hat sie sich verirrt, vielleicht ist ihr auch schlecht geworden, oder aber dem Kleinen, es ist ja so schwül und heiß. Vielleicht brauchen sie Hilfe, und anstatt etwas zu tun, gondelt er die Landstraße hinauf und hinunter. Ach, wie dumm er ist, das begreift er erst jetzt. Sein Herz schlägt heftiger. Vielleicht hat sie einen Sonnenstich. Oder ein Bein gebrochen.

      Er geht zurück und hupt ein paarmal. Zwei deutsche Autos kommen vorbei. Er schaut auf die Uhr: Ungefähr anderthalb Stunden sind schon vergangen, das heißt, dass die Fähre schon weg ist. Sie hat die Autos verschluckt, die Tore geschlossen und ist in See gestochen, ein mächtiger weißer Dampfer. Mit jeder Minute liegt ein größerer Streifen gleichgültiges Meer zwischen ihnen und der Fähre. Kunicki hat eine düstere Ahnung, von der ihm der Mund ganz trocken wird, eine Ahnung von etwas, das mit dem Abfall auf dem Pfad zusammenhängt, mit den Fliegen und den menschlichen Exkrementen. Er begreift. Sie sind umgekommen. Beide sind sie verschwunden. Er weiß, dass sie nicht in dem Olivenhain sind, trotzdem läuft er über den ausgedörrten Pfad dorthin und ruft nach ihnen, obwohl er schon gar nicht mehr glaubt, dass sie antworten werden.

      Jetzt ist Siesta, die kleine Stadt ist so gut wie ausgestorben. Am Strand gleich neben der Fahrstraße lassen drei Frauen einen hellblauen Drachen steigen. Beim Parken kann er sie genau sehen. Eine von ihnen trägt eine cremefarbene Hose, die ihre dicken Gesäßbacken eng umspannt.

      Er findet Branko an einem Tisch in dem kleinen Café. Dort sitzt er mit zwei anderen Männern. Sie trinken Obstler mit Eis, wie Whisky. Branko lächelt überrascht, als er ihn sieht.

      »Hast du was vergessen?«, fragt er.

      Sie bieten ihm einen Stuhl an, aber er will sich nicht setzen. Er will alles der Reihe nach erzählen, geht zu Englisch über, während er gleichzeitig in einem anderen Teil seines Kopfes nachdenkt, wie man jetzt vorgehen würde, wenn das Ganze ein Film wäre. Er sagt, sie seien verschwunden, Jagoda und der Kleine. Er sagt, wo und wann. Er sagt, dass er sie gesucht hat und sie nicht gefunden hat.

      »Habt ihr euch gestritten?«

      Fragt Branko.

      Er verneint, wahrheitsgemäß. Die beiden Männer trinken von ihrem Obstler. Er hätte auch Lust darauf. Im Mund spürt er den scharf-süßlichen Geschmack. Langsam räumt Branko seine Zigaretten und Streichhölzer vom Tisch. Die beiden anderen stehen auf, widerspenstig, als wollten sie sich vor einem Kampf konzentrieren, vielleicht wollen sie aber auch nur hier im Schatten der Markise sitzen bleiben. Alle wollen zu der Stelle fahren, aber Kunicki beharrt darauf, dass erst die Polizei benachrichtigt werden muss. Branko zögert. Hier und da scheint ein graues Haar durch seinen schwarzen Bart. Auf dem gelben T-Shirt prangt das Bild einer roten Muschel und die Aufschrift »Shell«.

      »Vielleicht ist sie ans Meer gegangen?«

      Vielleicht. Sie beschließen, dass Branko und Kunicki zurück an die Stelle fahren, die beiden anderen gehen auf die Wache, um in Vis anzurufen. Branko erklärt, dass in Komiża nur ein Polizist stationiert ist, die richtige Wache ist in Vis. Auf dem Tisch lassen sie die Gläser mit den schmelzenden Eiswürfeln zurück.

      Kunicki erkennt die kleine Bucht, wo er zuvor gestanden hat, sofort wieder. Ihm scheint es Ewigkeiten her zu sein, die Zeit fließt jetzt anders, sie ist zäh und herb, setzt sich aus Einzelsequenzen zusammen. Hinter den weißen Wolken kommt die Sonne hervor, auf einmal wird es heiß.

      »Hup mal!«, sagt Branko, und Kunicki drückt auf die Hupe.

      Ein langgezogener klagender Laut ertönt, wie von einem Tier. Er verstummt, zerfällt zu den Miniaturechos der Zikadenklänge.

      Sie dringen in den Olivenhain vor, rufen sich hin und wieder etwas zu. Erst am Weingarten treffen sie wieder zusammen, nach kurzer Beratung beschließen sie, auch diesen ganz zu durchkämmen. Sie schreiten die schattigen Reihen ab und rufen nach der verschwundenen Frau: Jagoda! Jagoda! Kunicki wird sich der Bedeutung des Namens bewusst – Beere –, die war ihm ganz entfallen. Plötzlich hat er das Gefühl, an einem uralten, obskuren und grotesken Ritual teilzunehmen. Von den Weinstöcken hängen pralle dunkelviolette Trauben, perverse Ballungen von Brustwarzen, und er irrt in dem belaubten Labyrinth umher und schreit »Jagoda, Jagoda!«. An wen ist das gerichtet? Wen sucht er?

      Er muss kurz stehen bleiben, er hat Seitenstechen, krümmt sich zwischen den Weinranken. Er taucht den Kopf in die schattige Kühle, die vom Laub gedämpfte Stimme Brankos verstummt, und Kunicki hört jetzt das Summen der Fliegen – den vertrauten Grundton der Stille.

      Hinter diesem Weingarten beginnt der nächste, vom ersten nur durch einen schmalen Pfad getrennt. Sie bleiben stehen, und Branko macht einen Anruf von seinem Mobiltelefon. Er sagt mehrmals die beiden Worte »Zena« und »dijete« – »Frau« und »Kind« –, mehr kann Kunicki nicht verstehen. Die Sonne wird orange, wird groß und aufgedunsen, man kann zusehen, wie sie kraftloser wird. Gleich kann man ihr direkt ins Gesicht sehen. Die Weingärten nehmen


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