Unrast. Olga Tokarczuk
Aber hatte sie die Hupe nicht gehört? Und dann? Vielleicht hatte jemand sie mitgenommen – doch wohin, da sie ja nicht aufzufinden waren? Jemand. Eine unscharfe, verschwommene breitschultrige Gestalt. Ein schwerer Nacken. Entführung. Hatte er sie geknebelt und in den Kofferraum verfrachtet? Dann hatte er sie mit der Fähre aufs Festland gebracht, und jetzt sind sie schon in Zagreb oder München oder werweißwo. Aber wie konnte er mit zwei bewusstlosen Menschen die Grenze überqueren?
Nun biegt der Hund in eine leere Schlucht ein, die schräg von der Straße abgeht, eine lange steinige Rinne, die läuft er hinab, über das Geröll. Dort fängt ein schmaler, verwilderter alter Weingarten an, darin steht ein kleines, mit rostigem Wellblech gedecktes Steinhäuschen, das an einen Kiosk erinnert. Vor der Tür liegt ein Haufen vertrockneter Traubenpergel, wahrscheinlich zum Verbrennen. Der Hund läuft im Kreis um das Haus, kehrt dann zur Tür zurück. Doch die Tür ist mit einem Vorhängeschloss versperrt, sie schauen alle verdutzt. Der Wind hat Reisig auf die Schwelle geweht, man sieht, dass hier niemand hineingegangen ist. Der Polizist schaut durch die schmutzige Scheibe ins Innere und rüttelt dann an der Scheibe. Er rüttelt immer fester und fester, bis sie nachgibt. Alle schauen hinein, Modergeruch schlägt ihnen entgegen und der Geruch nach Meer, der allgegenwärtige.
Die Walkie-Talkies rauschen, der Hund bekommt zu trinken, dann lässt man ihn wieder an dem Pullover schnüffeln. Jetzt macht er drei Runden um das Haus, kehrt zum Weg zurück, trabt nach kurzem Zögern auf dem Weg weiter, auf ein paar kahle Felsen zu, nur mit einzelnen Grasbüscheln bewachsen. Tief unten am Abhang sieht man das Meer. Dort bleiben alle Sucher stehen, das Gesicht dem Wasser zugewandt.
Der Hund hat die Spur verloren, kehrt zurück, legt sich schließlich mitten auf den Pfad.
»To je zato jer je po noci padala kisa«, sagt jemand auf Kroatisch, und Kunicki versteht genau, dass es um den Regen geht, der in der Nacht gefallen ist.
Branko lädt ihn zu einem späten Mittagessen ein. Die Polizisten bleiben zurück, sie fahren nach Komiża. Sie reden kaum ein Wort. Kunicki kann sich denken, dass Branko nicht weiß, was er sagen soll, dazu noch in einer fremden Sprache, auf Englisch. Nun gut, er braucht nichts zu sagen. In einem Restaurant direkt am Meer bestellen sie gebratenen Fisch. Eigentlich ist es kein Restaurant, es ist die Küche von Brankos Bekannten. Hier sind alle seine Bekannten, sie sehen sich sogar ähnlich, ihre Gesichtszüge sind irgendwie schärfer, die Gesichter wie vom Wind gegerbt, ein Stamm der Seewölfe. Branko schenkt ihm Wein ein, redet ihm zu, er soll trinken. Er selbst leert sein Glas in einem Zug. Er lässt nicht zu, dass Kunicki bezahlt. Branko bekommt einen Anruf.
Details of St. Petersburg (1850)
»They manage to get a helicopter, an airplane. Police«, sagt Branko.
Sie machen einen Plan: In Brankos Boot wollen sie die Küste der Insel abfahren. Kunicki ruft seine Eltern in Polen an, er hört die brüchige Stimme seines Vaters, sagt ihm, sie müssten noch drei Tage bleiben. Er sagt nicht die Wahrheit. Alles ist in Ordnung, sie müssen bloß noch etwas bleiben. Er ruft auch bei der Arbeit an, es gebe ein kleines Problem, er bittet um weitere drei Tage Urlaub. Er weiß nicht, warum er genau »drei Tage« sagt.
Er erwartet Branko am Hafen. Branko trägt jetzt ein neues Hemd mit einer roten Muschel darauf, es ist frisch und sauber, offenbar hat er mehrere von der Sorte. Sein kleiner Kutter liegt zwischen anderen vertäuten Booten. In unbeholfenen hellblauen Lettern steht der Name auf der Bootswand: »Neptun«. Kunicki fällt ein, dass die Fähre, mit der sie angekommen waren, »Poseidon« hieß. Dieser Name taucht hier an so vielen Stellen auf: Bars, Läden und Boote heißen Poseidon. Oder Neptun. Diese beiden Namen wirft das Meer wie Muscheln aus. Wie haben sie sich wohl das Copyright bei dieser Gottheit gesichert? Und womit bezahlt?
Sie setzen sich im Kutter zurecht. Eigentlich handelt es sich eher um ein Motorboot mit einer Kabine, die nachlässig aus Holzbrettern zusammengezimmert ist. Dort bewahrt Branko Wasserflaschen auf, leere und volle. In einigen Flaschen ist Wein aus seinem Weingarten, ein guter, starker Weißwein. Branko holt den Motor aus der Kabine und montiert ihn am Heck. Beim dritten Versuch springt er an, jetzt müssen sie sich schreiend verständigen. Der Lärm ist erst unerträglich, aber bald hat sich das Gehirn daran gewöhnt, so wie an dicke Winterkleidung, die den Körper von der Außenwelt abschottet. Nach und nach versinkt der Anblick der immer kleiner werdenden Bucht und des Hafens in dem Lärm. Kunicki erkennt das Haus, in dem sie gewohnt haben, sogar das Küchenfenster und die emporragende Agave, wie ein erstarrtes Feuerwerk, eine triumphale Ejakulation.
Vor seinen Augen schnurrt alles zusammen und verschwimmt: Die Häuser werden zu einer ungleichmäßigen dunklen Linie, der Hafen zu einem chaotischen weißen Fleck mit den kreuz und quer ragenden Masten. Dafür wachsen hinter der Stadt Berge empor, nackte, graue Berge mit den grünen Tupfen der Weinstöcke. Sie wachsen, werden riesig. Im Inland, von der Straße aus, wirkte die Insel klein, jetzt sieht man ihre Wucht, ein zu einem monumentalen Kegel geformter Felsbrocken, eine aus dem Wasser gereckte Faust.
Sie biegen nach links, kommen aus der Bucht aufs offene Meer hinaus, und von hier sieht die Küste der Insel steil und bedrohlich aus.
Die weißen Kämme der an die Felsen brandenden Wellen und die Vögel, die das Auftauchen des Bootes in Unruhe versetzt hat, bringen Bewegung in das Bild. Als sie zur Rückfahrt wieder den Motor anlassen, verschwinden die aufgescheuchten Vögel. Und noch etwas: ein senkrechter Kondensstreifen, der den Himmel in zwei Flächen zerschneidet. Ein Flugzeug fliegt nach Süden.
Es geht los. Branko zündet zwei Zigaretten an, eine gibt er Kunicki. Das Rauchen ist schwierig, unter dem Bug sprüht das Wasser auf und überzieht alles mit kleinen Tröpfchen.
»Guck aufs Wasser«, schreit Branko. »Auf alles, was schwimmt.«
Als sie sich einer Bucht mit einer Höhle nähern, sehen sie einen Hubschrauber, der in die entgegengesetzte Richtung fliegt. Branko stellt sich ins Boot und winkt. Kunicki blickt fast glücklich auf die Maschine. Die Insel ist doch nicht groß, denkt er zum hundertsten Mal, von oben betrachtet wird sich nichts vor den Augen des großen mechanischen Insekts verbergen können, alles liegt offen da wie auf dem Präsentierteller.
»Fahren wir zur Poseidon«, ruft er Branko zu, aber der will nicht so recht.
»Dort gibt es keine Durchfahrt«, schreit er zurück.
Aber der Kutter biegt ab und verlangsamt die Fahrt. Mit abgestelltem Motor treiben sie zwischen den Felsen.
Dieser Teil der Insel müsste auch Poseidon heißen, so wie alles andere, denkt Kunicki. Gott hatte sich hier seine eigenen Kathedralen gebaut mit Haupt- und Nebenschiff, Säulen und Chor. Die Perspektiven sind planlos, der Rhythmus falsch und ungleichmäßig. Die Felsen aus schwarzem Magma glänzen nass, wie mit einem seltenen dunklen Metall überzogen. Jetzt, im Dämmer, sind diese Bauwerke erschütternd traurig, das ist die Quintessenz der Verlassenheit, hier hat noch nie jemand gebetet. Kunicki meint plötzlich, hier die Urform der Kirchen der Menschen zu erblicken. Hierher müsste man reisen, bevor man nach Reims oder Chartres fährt.
Er möchte diese Entdeckung mit Branko teilen, aber der Lärm ist zu groß, man kann kein Wort wechseln. Sie sehen ein anderes größeres Boot mit der Aufschrift »Policie. Split«. Es fährt an der Steilküste entlang. Die Boote fahren aufeinander zu, Branko spricht kurz mit den Polizisten. Keine Spur ist zu entdecken, nichts. Das entnimmt Kunicki jedenfalls, das Knattern der Motoren übertönt das Gespräch. Offenbar verständigen sie sich mit Lippenbewegungen und einem sanften ratlosen Schulterzucken, was nicht zu ihren weißen Polizeihemden mit den Achselklappen passt. Sie geben mit Gebärden zu verstehen, man solle umkehren, gleich würde es dunkel. »Kehrt um!«, diese Worte versteht Kunicki. Branko gibt Gas, es hört sich an wie eine Explosion. Das Wasser bebt, kleine Wellen laufen auseinander, wie ein Schauder.
Als sie sich jetzt der Insel nähern, wirkt alles ganz anders als bei Tag. Zuerst sehen sie das Lichtergefunkel, das mit jedem Moment klarer in einzelne Punkte zerfällt, die Reihen bilden. Sie wachsen im sinkenden Dunkel, treten einzeln und verschiedenartig hervor: Die Lichter der Yachten vor dem Ufer sind anders als die in den Häusern, wieder anders sind die erleuchteten