Generationenkonflikt und Gedächtnistradierung: Die Aufarbeitung des Holocaust in der polnischen Erzählprosa des 21. Jahrhunderts. Elisa-Maria Hiemer
ibidem-Verlag, Stuttgart
Vorbemerkung des Reihenherausgebers
Mit Elisa-Maria Hiemers Studie über den Holocaust in Werken der aktuellen polnischen Erzählprosa startet unsere neue Buchreihe, die der gegenwärtigen Forschung zu den Literaturen und Kulturen Mittel- und Osteuropas Raum geben will. Neben Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstigen Monographien und thematischen Sammelbänden sollen – wie im vorliegenden Falle – auch hervorragende Masterarbeiten aufgenommen werden, da deren hohe fachliche Kompetenz der wissenschaftlichen Öffentlichkeit leider oft vorenthalten bleibt. Dem räumlich-regionalen Konzept wurde vor einem rein philologischen, z.B. slavistischen, der Vorrang gegeben, um den zahlreichen Verflechtungen, durch welche die Literaturen und Kulturen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas sowie des deutschsprachigen Raums geprägt sind, besser entsprechen zu können. Gerade diese vielfältigen wechselseitigen Kontakte, Überschneidungen und Beeinflussungen sollen einen der wesentlichen Impulse für die Reihe bilden. Wie aus Elisa-Maria Hiemers Buch ersichtlich, wird der literarisch-kulturelle Umgang mit dem Holocaust einen wichtigen Themenschwerpunkt bilden, was nicht zuletzt mit unserem in den vergangenen Jahren erfolgreich entwickelten Gießener Projekt zur vergleichenden Erforschung der polnischen, tschechischen und deutschen Holocaustliteratur und -kultur zu tun hat, aus dem diverse Teilvorhaben erwachsen sind. Zu den weiteren Themengebieten, die der Reihe Profil verleihen sollen, gehören die Moderneproblematik, die Gattungsforschung sowie auch Fragen der Ästhetik und Methodologie. In diesem Sinne sind alle Interessierten herzlich eingeladen, mit innovativen und spannenden Projekten zum Erfolg der Reihe beizutragen.
Gießen, im August 2012
Reinhard Ibler
Inhaltsverzeichnis
2.1 Literatur der unmittelbaren Nachkriegsjahre
2.2Literatur und Politik: Tauwetter und der März 1968 als Zäsur
2.3 Wiederentdeckung des Themas in den 1980er Jahren
2.4 Neudefinition und ‚postmemory‘. Die Zeit nach 1989 bis zur Gegenwart
3. Zusammenfassungen der Werke und Biogramme der Autoren
3.1 Piotr Paziński – Pensjonat
3.2 Zyta Rudzka – Ślicznotka doktora Josefa
4.1 Forschungsgegenstand ‚Erzählprosa‘ und Analysemuster
4.2.1 Untersuchungen auf makrostilistischer Ebene
4.2.2 Untersuchungen auf mikrostilistischer Ebene
4.2.3 Autofiktionale Erzählstrategien
4.3. Ślicznotka doktora Josefa
4.3.1 Untersuchungen auf makrostilistischer Ebene
4.3.2Posttraumatische Erzählstrategien
5. Diskurs: Antijüdische Ressentiments in Gesellschaft und Literatur
5.1 Jüdisches Leben und jüdische Kultur heute
5.2 Zur Dichotomie des jüdischen und polnischen Opfers
5.3 Geschichtsdarstellung und Erinnerungen an den Holocaust
5.4 Spiel mit Vorurteilen und antisemitischen Äußerungen
6. Forschungsthesen und Ausblick
1. Einleitung
Der Holocaust als Zäsur in der Menschheitsgeschichte hat auch weit über 65 Jahre nach seiner Beendigung nichts an seinem Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen verloren: Durch die Erinnerung und die Auslegung der damaligen Ereignisse werden uns in der Gegenwart die Grundlagen für menschliches Handeln wieder verdeutlicht. Die Sicht auf die Vergangenheit fungiert also als Maßstab für gegenwärtige Entscheidungen.
Die Wiederaufnahme und Weiterführung des Themas scheint auch dem polnischen Literaturwissenschaftler Przemysław Czapliński zufolge unabdingbar, da sich die Identität einer Gesellschaft in Friedenszeiten maßgeblich daran ausmache, wie sie den Krieg deute und somit Konflikten unserer Zeit gegenüber trete.1 Daher sei gerade jetzt eine erneute, natürlich rein metaphorische, ‚Kriegserklärung‘ der jungen Werke und Autoren notwendig. Aber um Authentizität zu wahren, müssten diese nun auf die übliche, an der Kriegsrealität orientierte Darstellung verzichten und eine symbolische Front erschaffen. Czapliński formuliert es plakativ: „Już bez armat, czołgów, żółnierzy“ .2 3
Einer ähnlichen Metaphorik bedient sich der Herausgeber des erst kürzlich erschienenen Sammelbandes Wojna i postpamięć, Zygmunt Majchrowski. Zur Situation der aktuellen polnischen Literatur über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg erklärt er:
Toczy się „wojna o pamięć“, wojna o kształt obrazu wojny, ale bardziej chyba o sposób funkcjonowania pamięci, tej „niechcianej“, stabuizowanej i tej „politycznie niepoprawnej“, dyskryminacyjnej, a wreszcie – pamięci swoiście sfolkloryzowanej. W PRL-u był to glównie „swojski“ folklor zbowidowski (ZBOWiD, czyli Związek Bojowników o Wolność i Demokracje)[…] Dzisiejsze folkloryzowanie wojennej pamięci ma już charakter popkulturowy lub hobbystyczny, a to oznacza, że ślad funkcjonuje bądź jako gadżet, bądź jako kolekcjonerski fetysz.4
Die hier angedeutete Popkultur – gesellschaftliche Erscheinungen, die sich in unterschiedlichen Lebensbereichen niederschlagen – kann anhand eines Auszugs aus der 2010 erschienenen Erzählung Lata walk