Euroskeptizismus auf dem Vormarsch. Julian Wessendorf
Genauso erklärt Weßels (2009: 66), dass die fundamentalen EU-SkeptikerInnen der EU als politischer Gemeinschaft grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen – wie auch die harten EuroskeptikerInnen – und somit den „exit“ als einzige angemessene Option ansehen. Auf der anderen Seite stehen die konstruktiven EU-SkeptikerInnen, die lediglich einige Funktionsweisen der EU kritisieren, ihr aber grundsätzlich positiv gegenüberstehen und daher versuchen, durch Widerspruch oder Reformen („voice“) Verbesserungen am System zu bewirken.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es ganz unterschiedliche Herangehensweisen der Euroskeptizismusforschung gibt und mit unterschiedlichen Typologien gearbeitet wird. Ein Vorteil der mehrstufigen Einteilung (Kopecký & Mudde 2002; Krouwel & Abts 2007) gegenüber den zwei Kategorien von Taggert und Szczerbiak (2001) oder Weßels (2009) ist, dass durch die feinere graduelle Abstufung nicht nur zwischen grundsätzlichen EU-GegnerInnen und partiellen KritikerInnen der EU unterschieden wird, sondern auch positive Einstellungen gegenüber der EU – die nicht unbedingt frei von Kritik oder Skepsis sein müssen – in die Betrachtung eingeschlossen werden. Somit wird verdeutlicht, dass der Euroskeptizismus nicht per se negativ sein muss, da eine konstruktive Kritik durchaus positive Aspekte mit sich bringen kann. Dennoch fällt auf, dass Weßels (2009) trotz zahlreicher Definitionsversuche, die seit Taggerts (1998) ursprünglichem Ansatz unternommen wurden, wieder zu einer puristischeren und allgemeineren Definition zurückgekehrt ist. Dies erklärt sich hauptsächlich durch die zahlreichen unterschiedlichen Ansätze und Aspekte, die zur Typologisierung des Euroskeptizismus – und hierbei ist es unerheblich, ob man den Euroskeptizismus aus parteipolitischer Sicht oder in Bezug auf die öffentliche Meinung untersucht – in Betracht gezogen werden müssen. Es erscheint so, als sei eine Zusammenfassung aller euroskeptischen Stimmen unter einem gesammelten Begriff aufgrund der weitgefassten Definition nicht nur irreführend, sondern auch kontraproduktiv (vgl. hierzu auch Leruth et al. 2018). Unabhängig davon, ob Euroskeptizismus nun lediglich kurzfristig als Wahlkampfstrategie verwendet wird oder die tatsächliche Ideologie widerspiegelt, gilt es, den Begriff weiter einzugrenzen, um ihn transparenter zu machen.5
2.1.2 Schwierigkeiten mit der Begrifflichkeit des Euroskeptizismus
Aufgrund der vielen Perspektiven, aus denen man das Phänomen Euroskeptizismus betrachten kann – bspw. mit Bezug auf die Parteipolitik, die öffentliche Meinung, internationale Beziehungen oder auf institutioneller, geografischer und wirtschaftlicher Ebene – bemerken Leruth et al. (2018: 3f.), dass es schon beim Aufkommen des Begriffs Euroskeptizismus im wissenschaftlichen Kontext schwierig war, diesen umfassend zu greifen. Auch Miliopoulos (2017: 59) hebt die vielseitige Verwendung des Begriffs hervor, da dieser „eine große Bandbreite inhaltlicher Positionen“ anspricht. So werden beispielsweise in Bezug auf den Ausstieg Großbritanniens aus der EU die KämpferInnen für den Brexit ebenso wie die BefürworterInnen des Verbleibs in einer reformierten Union als EuroskeptikerInnen bezeichnet.
Grundsätzlich lassen sich drei Aspekte herausarbeiten, an denen deutlich wird, worin die Hauptproblematik der Begriffsklärung und der Verwendung des Terminus liegt. Hierbei stellt bereits der Terminus Euroskeptizismus das erste Problem dar, da nicht eindeutig definiert ist, was dieser tatsächlich impliziert. In diesem Sinne bemängeln Leruth et al. (2018: 4), dass mithilfe einer Abgrenzung des Terminus Euroskeptizismus von der weniger akademisch klingenden Euroskepsis der Anschein einer bestimmten Wissenschaftlichkeit geweckt werden solle, da der Begriff anfänglich insbesondere durch NichtakademikerInnen und die vornehmliche Verwendung im journalistischen Kontext geprägt worden war. Während Flood (2002a: 3) hervorhebt, die Endung ‚-ismus‘ verweise auf eine Ideologie und der Euroskeptizismus sehe sich somit als politisches Glaubenssystem an, kritisieren Leruth et al. (2018: 4), dass dies auf sprachlicher Ebene nachvollziehbar wäre, auf der wissenschaftlichen jedoch „absolutely no sense“ machte. Flood (2002b: 73) bemerkt hierzu, dass die ideologische Dimension des Euroskeptizismus – wie auch andere ideologische Phänomene – auf verschiedene Arten und auf unterschiedlichen Komplexitätsebenen verbreitet werde, die von täglichen Meinungsaustauschen zwischen Individuen bis hin zu Interviews mit PolitikerInnen, Zeitungsartikeln, Büchern, u.v.m. reichen. Dennoch geben Leruth et al. (2018: 4) zu bedenken, dass das Suffix lediglich einen ideologischen Kern suggeriere und nur ein anderes Label für bereits bestehende Begriff wie Populismus, Nationalismus oder Anti-Politik darstelle, während man missachte, dass Euroskeptizismus zwar populistische, nationalistische oder anti-politische Elemente enthalte, sich jedoch nicht durch diese definieren lasse. Sitter (2003: 239) merkt ebenfalls an, dass Euroskeptizismus nicht zwingend als ideologisches Phänomen zu betrachten sei, obwohl dieser in der Forschung lange Zeit als „abhängige Variable polarisierter Parteienwettbewerbe auf nationaler Ebene“ angesehen und dementsprechend eng in Zusammenhang mit der Rolle der Opposition gestellt wurde. Demzufolge wurde Euroskeptizismus zunächst lediglich als Instrument angesehen, um WählerInnen zu mobilisieren und Stimmen zu generieren. Miliopoulos (2017: 63) hingegen weist darauf hin, dass der Euroskeptizismus heutzutage keinesfalls nur noch eine strategische Position der Opposition sei. Vielmehr heben Parteien, wie bspw. die polnische PiS (‚Recht und Gerechtigkeit‘, Prawo i Sprawiedliwość) oder die tschechische ODS (‚Demokratische Bürgerpartei‘, Občanská demokratická strana), die beide seit dem EU-Beitritt ihrer Länder 2004 durchgehend im Europäischen Parlament vertreten sind, den ideologischen Gehalt des Euroskeptizismus besonders hervor. Auch nach verschiedenen Regierungswechseln sind diese Parteien nicht von ihren euroskeptischen Positionen abgerückt, was bei einer rein strategischen Verwendung des Euroskeptizismus zu vermuten gewesen wäre (ebd.).
Ein zweiter Aspekt ist die grundsätzlich negative Konnotation des Begriffs, obwohl sich dieser in seiner minimalsten Form lediglich auf die Gegenposition zu einigen Aspekten der europäischen Integration bezieht (Leruth et al. 2018: 4). Dies führt dazu, dass der Euroskeptizismus ein sehr breites Spektrum an Gegenpositionen abdeckt und man die tatsächliche Ausprägung der euroskeptischen Haltung – von konstruktiver Kritik zu kompletter Ablehnung der EU – nur schwer feststellen kann. Stattdessen werden unter dem allgemeinen Begriff Euroskeptizismus zahlreiche Praktiken zusammengefasst, die unterschiedlichste Ideologien und eine Vielzahl weiterer Faktoren umschließen, was unzählige Verwendungsformen des Begriffs hervorbringt. Oftmals haben die Gruppierungen und Bewegungen, die sich als euroskeptisch bezeichnen, wenig gemeinsam, was über die Abneigung gegenüber der EU hinausgeht (ebd.).
Ein dritter Punkt, der auf den ersten beiden Aspekten aufbaut, hängt mit der Entstehung des Begriffs und der Diskussion um diesen zusammen und verdeutlicht die geografischen und zeitlichen Besonderheiten, die es zu bedenken gibt. Als 1992 der Vertrag von Maastricht eingeführt wurde, weitete sich das Phänomen des Euroskeptizismus aus und der Begriff wurde von nun an nicht mehr nur in Großbritannien, sondern in allen Mitgliedstaaten verwendet (FitzGibbon et al. 2016: 3). In den letzten Jahren wurde die Diskussion zum Euroskeptizismus vor allem wegen des großen Konjunkturrückgangs, der Eurokrise und Überlegungen zu einer weiteren EU-Erweiterung verstärkt aufgenommen und weiter vorangetrieben (Usherwood & Startin 2013: 1). Aufgrund dieser Entwicklung und der unterschiedlichsten Beweggründe für Euroskeptizismus innerhalb der EU sprachen Brack und Startin (2015: 242) bereits 2015 vom „mainstreaming of Euroscepticism“, und bezogen sich – wie auch Miliopoulos (2017) – auf das Phänomen, dass sowohl griechische KommunistInnen als auch ungarische Neonazis, niederländische christliche Konservative, deutsche Neokonservative sowie weitere als EuroskeptikerInnen bezeichnet werden.
Ein grundsätzliches Problem in der Euroskeptizismusforschung ist, dass diese oftmals nur als Teil anderer Disziplinen angesehen und verstanden wird. So wurde in der Vergangenheit beispielsweise der Euroskeptizismus in der öffentlichen Meinung, der Euroskeptizismus in den Medien oder der Euroskeptizismus in der Partei- und Wahlforschung untersucht, jedoch nicht als eigenständiges (multidimensionales) Phänomen (Leruth et al. 2018: 5). Dies lässt sich auf drei Hauptprobleme zurückführen. Wie bereits in Kapitel 2.1.1 veranschaulicht, ist es schwierig, eine klare und allgemeingültige Typologisierung für den Euroskeptizismus herauszuarbeiten. Das führt dazu, dass der Euroskeptizismus zwar in verschiedenen Forschungsbereichen weitgehend akzeptierte Definitionen vorzuweisen hat, diese aber oftmals nur für genau diese Bereiche Anwendung finden. Demnach