Euroskeptizismus auf dem Vormarsch. Julian Wessendorf
– und damit auf das gesamte System – oder auf aktuelle Entwicklungen und ein vermeintliches Versagen der EU in bestimmten Angelegenheiten zurückführen lassen. An den verschiedenen Typologisierungen hat sich bereits gezeigt, dass man in Bezug auf den Euroskeptizismus durchaus zwischen einer grundsätzlichen Ablehnung der EU als System und der gezielten Kritik einzelner Aspekte des aktuellen Zustands der EU unterscheiden kann und muss. Dennoch wäre eine alleinige Erklärung des Euroskeptizismus auf dieser Grundlage zum einen zu einfach und zum anderen zu allgemein.
Die fortschreitende Erweiterung der EU und die Ausweitung ihrer Kompetenzen haben die möglichen Potenziale für Spannungen innerhalb der EU vervielfacht (Harmsen & Spiering 2004: 13). Aus diesem Grund unterscheidet Sørensen (2008: 8) zwischen vier verschiedenen Argumenten für den Euroskeptizismus. Das erste Argument ist die Legitimation der EU. Im Sinne eines utilitaristischen Euroskeptizismus wird die Frage gestellt, ob eine Mitgliedschaft in der EU bzw. eine weitere europäische Integration wirklich Vorteile für die Nationalstaaten und ihre Bevölkerung mit sich bringt. Ein zweiter Grund ist die Souveränität bzw. der Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten. Hierbei ist vor allem der Widerstand gegen die supranationalen Strukturen der EU hervorzuheben und die Meinung, dass die Supranationalität der EU nicht in Konkurrenz zu den Nationalstaaten stehen sollte. Boomgaarden et al. (2011: 248) geben in diesem Zusammenhang zu Bedenken, dass das Gefühl der Abneigung in Verbindung mit dem Souveränitätsverlust des eigenen Landes oftmals auch mit Gefühlen der Angst oder Wut gegenüber der EU einhergeht und die EU-Einigung auch als Bedrohung der (nationalen) Interessen angesehen wird. Drittens kritisiert der demokratische Euroskeptizismus die ungeeigneten politischen Strukturen und äußert die Unzufriedenheit mit der Demokratie innerhalb der EU und die Ansicht, die EU würde unter einem Demokratiedefizit leiden (Sørensen 2008: 8). Als vierten Grund für Euroskeptizismus bezeichnet die Autorin die Kritik an der Sozial- und Finanzpolitik der EU. AnhängerInnen dieser Haltung argumentieren, die EU sei zu liberal und nicht sozial genug. Heutzutage lässt sich dieser Aufzählung sicherlich auch noch eine Art ‚kultureller Euroskeptizismus‘ hinzufügen, der sich an der Kritik der Migrationspolitik der EU festmachen lässt. Diese allgemeinen Konzeptionen für mögliche Auslöser euroskeptischer Haltungen können durchaus vereinzelt auftreten, müssen dies aber nicht. So kann eine Person, die mit den internen Strukturen der europäischen Institutionen unzufrieden ist nach Taggert und Szczerbiak (2001) als weich euroskeptisch angesehen werden, sofern sie die EU ansonsten grundsätzlich befürwortet. Weßels (2007: 290) merkt hierzu ergänzend an, dass sich eine weich euroskeptische Einstellung über einen längeren Zeitraum oder aber auch die Unzufriedenheit mit verschiedenen Aspekten der EU zu einem harten Euroskeptizismus und somit einer vollständigen Ablehnung der EU entwickeln kann. In diesem Zusammenhang sei hier beispielhaft eine Studie von Hooghe et al. (2002) zu nennen, die den Zusammenhang zwischen der Parteipositionierung im politischen Spektrum und dem Grad der Ablehnung der Europäischen Integration untersuchte. In der Studie kamen die Forschenden zu dem Ergebnis, dass die Ablehnung der Europäischen Integration größer wird, je weiter eine Partei vom politischen Zentrum entfernt ist (Hooghe et al. 2002: 969). Diese Beobachtung ist darauf zurückzuführen, dass man davon ausgehen kann, dass es weniger Schnittpunkte zwischen den europäischen Interessen und den Interessen der extremeren Parteien gibt.
Im Stile einer weiteren Typologisierung für Euroskeptizismus untersuchte Trenz (2014), inwiefern der bisherige Verlauf der Europäisierung im Sinne einer Geschichte sozialen Wandels für euroskeptische Entwicklungen verantwortlich ist. In diesem Zusammenhang kommt er zu einer umfassenden Erklärung des Aufkommens von Euroskeptizismus und unterteilt die Wahrnehmung der Europäisierung in (1) eine erfolgreiche Europäisierung (Glorifizierung), (2) eine einfache Europäisierung (Banalisierung), (3) einen Euroskeptizismus (Entglorifizierung) und (4) eine politische Krise (Misere). Die Kategorien (1) und (2) bezeichnen Erfolgsgeschichten, die auf eine Bestätigung des (Mehr-)Werts einer europäischen Integration und eine Betonung der außergewöhnlichen Errungenschaften Europas zurückgehen. Im Gegensatz hierzu stellen (3) und (4) den (Mehr-)Wert der europäischen Integration in Frage (Trenz 2014: 2). Im Sinne der Banalisierung wird als größter Erfolg der Europäisierung angesehen, dass Europa ein Teil des alltäglichen Lebens geworden ist und enge Interaktionen zwischen EuropäerInnen vereinfacht hat. Aus einem endlosen Kampf um Macht innerhalb Europas ist eine Gemeinschaft geworden, die sich durch gegenseitiges Lernen, Sozialisierung und institutionelle Anpassung auszeichnet. Demzufolge ist die europäische Integration erfolgreich, weil sich die europäische Bevölkerung daran gewöhnt hat, dass es sie gibt und nicht mehr über deren Existenz nachdenkt (ebd. 9). Dennoch weist Trenz (2014: 10) darauf hin, dass die Banalisierung mindestens zwei Gefahren birgt: Erstens, die Europäisierung mobilisiert nicht so sehr, wie es Ideologien wie bspw. der Nationalismus, der Sozialismus etc. in der Vergangenheit getan haben; zweitens, die Sozialisierung innerhalb der EU bedeutet auch, dass die Bevölkerung lernt, ihre Stimme zu erheben, gegen die EU zu protestieren oder zu rebellieren. In diesem Zusammenhang wird Europa oft als eiserner Käfig der Bürokratie gesehen und daher nicht nur als „dull and boring […] [but also] as annoying and pretentious“ (ebd. 9) empfunden. In der dritten Kategorie, dem Euroskeptizismus oder der Entglorifizierung, erklärt Trenz (2014: 10), dass es verschiedene Gründe gibt, die zu einer Skepsis gegenüber Europa führen können. Hierbei ist es zunächst wichtig, zu verstehen, dass nicht alle BürgerInnen Europas die europäische Integration als positive Entwicklung oder Fortschritt wahrgenommen haben und sich somit als Leidtragende der europäischen Integration ansehen. In diesem Zusammenhang wird bspw. kritisiert, dass es der EU bislang nicht gelungen ist, gleiche Lebensverhältnisse für die gesamte europäische Bevölkerung zu schaffen. Die hohen Erwartungen an den EU-Beitritt und die damit verbesserte persönliche Situation wurden demnach nicht nur nicht erfüllt, es wurden gleichzeitig auch die falschen Versprechungen der EU aufgedeckt (Majone 2014: 238). Wenn man zu dieser Sichtweise vereinzelter BürgerInnen nun noch die Bedrohung der Souveränität des Heimatlandes hinzufügt und in dem Aufstieg der EU eher einen Zerfall der Nationalstaaten erkennt, dann führt dies zwangsläufig zu einem (Wieder-)Erstarken des Nationalismus, während die Unterstützung für die EU abnimmt. Trenz (2014: 12) gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass dies darauf hindeutet, dass die Europäisierung der Massen fehlgeschlagen ist. Demnach gäbe es eine elitäre Voreingenommenheit in Bezug auf die europäische Integration, die zwar die Elite als wichtige Akteurin der Europäisierung ansieht, die Masse der Bevölkerung jedoch als mögliche Antagonistin vernachlässigt. Der euroskeptische Teil dieser Masse sei daher von der Vorstellung geleitet, die Erfolge des Nationalstaates seien in Bezug auf Wohlfahrt, Demokratie und Volkssouveränität als schützenswert anzusehen und betrachten die Europäisierung als „a story of a collective trauma“ (ebd.). Ein kollektives kulturelles Trauma also, welches die Geschichte eines europäischen Volkes erzählt, dass unter den Folgen der Entscheidungen der EU – wie bspw. der Finanzkrise oder der Migrationsströme – leidet. Aus dieser Perspektive betrachtet kommt Trenz (2014: 12) zu dem Schluss, dass der Euroskeptizismus ein Mittel ist, um den verschiedenen kritischen Aspekten der Europäisierung eine politische Stimme zu geben und somit dem Abbau der nationalen Identität und der Demokratie gegenübersteht. Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, dass der Euroskeptizismus prinzipiell nur als Gegennarrativ zur eigenen Legitimierung von Seiten der EU auftreten kann. Demzufolge werden euroskeptische Reaktionen umso mehr provoziert, je häufiger die EU die positiven Aspekte der Europäisierung hervorhebt (Trenz 2014: 13). De Wilde und Trenz (2012: 540) merken hierzu an, dass der Euroskeptizismus auch als diskursive Formierung angegangen werden kann, die die Legitimität der europäischen Integration als Projekt und die EU-Politik als institutionelle und konstitutionelle Einheit, welche politische Autorität über Menschen und Mitgliedstaaten ausübt, in Frage stellt. Den vierten Punkt seiner Typologisierung bezeichnet Trenz (2014: 14) als politische Krise, und legt diesem Punkt zugrunde, dass sich das Fundament der europäischen Integration zahlreichen – teilweise hausgemachten – Krisen gegenübersieht, die auf Defizite innerhalb des Plans der europäischen Integration zurückgehen. Demnach wird die Europäisierung nicht mehr als die bessere oder effizientere Regierungsform angesehen, sondern als Beeinträchtigung des privaten Lebens im Alltag, während sie gleichzeitig die Ängste und das allgemeine Gefühl der Unsicherheit stärkt. Greift man das von Trenz gewählte Bild auf, so erkennt man im euroskeptischen Diskurs Staatsschuldenkrisen in einigen europäischen Ländern, eine prinzipielle Legitimationskrise der EU, eine seit Jahren anhaltende Asyl- und Migrationskrise, eine Repräsentationskrise innerhalb