Kunst, Bildung und Bewältigung. Lisa Niederreiter

Kunst, Bildung und Bewältigung - Lisa Niederreiter


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Publikation offenzulegen und zu hinterfragen bedeutet, die Widerstände gegen und/oder die Heroisierungen von Kunstschaffenden als mögliche Vorbilder für eigenes künstlerisches Handeln mit den Adressat*innen der eigenen Arbeit zu thematisieren, auch hinsichtlich der Rezeption von auf den ersten Blick nicht erschließbaren Kunstwerken. Das Verhältnis von Kunst, Künstler*innen, Kunstschaffenden und künstlerisch Tätigen in mehr oder weniger kunstimmanenten bzw. kunstfernen Kontexten oder Praxen könnte von einer gegenseitigen Öffnung profitieren, ohne die Differenz zwischen Kunst-Kunst und ästhetisch-künstlerischer Praxis leugnen zu wollen. Künstler*innen sollten als Modelle und Gradmesser für eigenes künstlerisches Tun ganz selbstverständlich befragt werden können, ebenso wie die Botschaften ihrer Objekte und Interventionen nicht nur klassisch kultursozialisierte Teilgruppen unserer Gesellschaft, sondern barrierefrei alle erreichen sollten, um das aktivierende und irritierende Potential ihrer Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen vielen verfügbar zu machen. In diesem Sinne plädiert Mersch für eine Ablösung der kaum zu beantwortenden Frage: »Was ist Kunst?« durch die: »Wie geschieht Kunst?« (ebd. 75), den Blick somit zu richten auf die konkreten künstlerisch-ästhetischen Praxen und sichtbar werdenden Interventionen: »Künstlerische Prozesse, das ist gleichsam die erste Minimalbedingung, beruhen darauf, im Wahrnehmbaren Ruptionen, Unterbrechungen oder ›Wendungen‹ einzutragen. Die Praxis der Künste besteht in einer Praxis andauernder Wahrnehmungskonversionen« (ebd.). In einer Auseinandersetzung um die Erkenntnistheorie der Frankfurter Schule und der poststrukturalistischen französischen Denktradition entwickelt Mersch präzise und strenge Forderungen an künstlerische Manifestationen, da sie sich daran, eine wahrnehmbare, unverkennbare (nicht im Sinne einer Eindeutigkeit) Reflexionsfigur anzubieten, messen lassen müssen:

      »Daher die weitere These, dass im Umgang mit ästhetischen Phänomenen immer zugleich eine Differenz, ein disparates Zueinander-ins-Verhältnis-Treten, eine Produktion von Widersprüchen oder Zerwürfnissen entscheidend wird, welche die zugrunde liegenden Phänomene buchstäblich ›ent-setzen‹. Solche Ent-Setzung kann ganz unterschiedlich ausfallen: durch Nebeneinanderordnung, Dislokation oder Deplatzierung, aber auch durch schlichte Konjunktionen, die immer zugleich Disjunktionen enthalten. Alle Formen von Relationierung eröffnen dabei eine Konstellation, ein singuläres Paradigma, das unabhängig von einem machenden Subjekt, einer souveränen Verfügung über Materialien oder einer kontrollierenden Ermächtigung und ähnliches beschrieben werden kann« (ebd., 77).

      Die Verdichtung seiner Forderung an das, was zeitgenössische künstlerische Arbeiten (in der Rezeption) leisten können, macht deutlich, wie sehr diese mit der Einbeziehung von sozialen Gegebenheiten, Realitäten, Materialitäten, Beobachtbarem, ihren irritierenden sinnlich wahrnehmbaren und emotional konnotierten Konstellationen konfrontiert sind, welche sie noch nie so sehr wie heute in eine Position zwingt, selbst reflektierende, sensibel beobachtende und dokumentierende Strategien anzuwenden.

      2.2.2 Exemplarische Künstlerposition: Fischli und Weiss

      Der Grundidee dieser Publikation entsprechend möchte ich die vorangestellten Überlegungen an einer Künstlerposition erläutern, bewusst nicht mit einer Einzelperson, sondern mit dem seit 1979 konsequent zusammenarbeitenden Künstlerpaar David Fischli und Peter Weiss. Zudem entspricht ihr Oeuvre in vielfacher Hinsicht den oben diskutierten Wesens- und Wirkmomenten zeitgenössischer Bildender Kunst. So arbeiten Fischli und Weiss mit den unterschiedlichsten Medien wie Video, Fotografie, Film, Künstlerbüchern, Installation und Skulptur, wobei sie einfaches, »armes« Material nutzen und in ihre Werke häufig Gebrauchsobjekte aus dem Alltag einbeziehen bzw. alltägliche Situationen modellhaft nachbauen. Vorgestellt werden hier einige Werkgruppen aus dem Katalog ihrer großen Retrospektive »Flowers & Questions«, die 2006 in der Tate Modern in London begann und neben Abbildungen auch zahlreiche Kommentare von Künstlerkolleg*innen, Kurator*innen und Kritiker*innen enthält.

      »Der Lauf der Dinge« (1986/1987) ist ein halbstündiger Film, in dem Stühle und Autoreifen eine zentrale Rolle spielen (siehe YouTube). Durch eine unglaubliche, einer ausgetüftelten experimentellen Versuchsanordnung gleichende Verkettung von miteinander verbunden Alltagsgegenständen, welche beispielsweise über Schnüre sich senkende Mechanismen von liegenden Hölzern auslösen, die wiederum Reifen in Bewegung setzen, die wiederum andere Mechanismen in Gang setzen, welche dann weitere Objekte stürzen, rollen, springen oder laufen lassen. So kippen Stühle, fällt eine Flasche um, entrollen sich Schnüre, explodieren kleine Feuerwerke, rotiert ein Eimer; unzählige dilettantisch wirkende Mechanismen aus einfachsten Gegenständen – jeder anders – sind in einer unendlichen Anordnung aneinandergekoppelt und lassen über verquere Rampenbildungen diese absurden Kettenreaktionen geschehen, perfekt getimt, ohne eine Sekunde Pause, ohne den geringsten Fehler, zwingend perfekt und gänzlich unnütz. Welche Botschaft mag dieser experimentellen Intensiv-Performance aus sich nacheinander in unterschiedlichsten Weisen zu Fall bringenden Objekt-Überbleibseln aus dem Keller von »Hinz und Kunz« innewohnen? Der bedeutende Philosoph und Kunstkritiker Arthur Danto schlägt eine breite Lesbarkeit vor:

      »And those hard wooden chairs! We have seen them in the scenes of torture by the painter Leon Golub in which victims, bound and blindfolded, are tormented with clubs and lightened cigarettes. And when Bruce Nauman inserted a straight chair into a piece of sculpture this, too was widely read as a reference to torture. The chair tipping over in The Way Things Go seems at once comical and frightening, as it would be if someone were sitting in it tied up. Perhaps this is why viewers do not always laugh, are not sure, whether this is funny, …« (Danto, 2007, 215). »This is an argument for each thing having its place in a well-run society, which is the positive side of celebrating banality« (ebd.).

      Danto faltet somit in seiner Analyse des »Laufs der Dinge« die Bandbreite der möglichen Reflexionsfiguren zwischen dem ungeheuren Energieverbrauch alltäglicher Umstände, die zwingend ihren Platz haben und ihre jeweiligen Folgen zeitigen, und einer möglichen kunstgeschichtlichen Kontextualisierung mit dem Stuhl als möglichen Platzhalter für Folter auf. Auch wenn man den für kunstwissenschaftliche Rezeptionen typischen letzten Schritt der Bezugnahme zum Oeuvre anderer Künstler*innen nicht vornimmt, vermittelt sich der ungeheuer große Energieaufwand sensationell gut. Präzise gebastelte Geschehnisse aus zweckentfremdeten banalen Gegenständen, von denen am Ende nichts bleibt. Nach 30 Minuten ist die irre Kettenreaktion gelaufen, sie ist unumkehrbar und nichts Wirkliches ist dabei herausgekommen. Angeli Jahnsen führt ins Feld: »›Rube-Goldberg-Maschinen‹ und verwandte Apparaturen dagegen veranschaulichen das Problem, dass viel Aufwand keine Wirkung haben kann, indem sie ganze Maschinerien herstellen, mit denen nichts weiter getan wird als das, was leicht zu tun gewesen wäre« (Jahnsen, 2013, 120), wobei sie den Film von Fischli und Weiss in seiner Aussage noch extremer, beinahe fatalistisch findet (vgl. ebd.). In der Tat kommt diese Arbeit einem immensen Zeitspeicher gleich, Tage und Wochen des Ausprobierens, des Wieder-und-wieder-Aufbauens, des multiplen Scheiterns eines einzigen Mechanismus in der Gesamtkette der Versuchsanordnung sind darin enthalten und vermitteln sich unmittelbar beim Betrachten des Films. Kapielski ergänzt die Information, dass die ursprünglich in Super-8-Filmmaterial produzierte Anfangssequenz vom »Lauf der Dinge« von einer nur dreiminütigen Dauer durch Patrick Freys Videomitschnitt als sechsstündige Arbeit dokumentiert ist (vgl. Kapielski, 2007, 225).

      Ungezählt und unermesslich ist das Arbeitspensum des zehnmal so langen finalen Films, je später in der Kettenreaktion Dinge nicht gelingen, umso länger, aufwändiger wird der gesamte Neuaufbau. Diese hochkomplizierte Anordnung sich nacheinander erschütternder Dinge, in der Wochen an Arbeit gebunkert sind, genügt sich selbst im Spannungsfeld von prekärst ausbalanciertem Geschehen und seiner Verpuffung. Das Werk vermag den Betrachtenden in der Welt aufzuheben und gleichzeitig vor den Niederungen alltäglicher Abläufe und Lebensvollzüge zu entheben. Intensiver ist Paradoxie nicht fühl- und wahrnehmbar, weil sich die ungeheure handwerkliche Präzision und der Aufwand genauso vermitteln wie die bittere Komik fataler Wirkungslosigkeit. Die Botschaft, die möglichen Erkenntnisse und philosophischen Reflexionen vermitteln sich dem*der intellektuellen Kunstkenner*in genauso wie dem*der kaum mit der Welt der Künste vertrauten Rezipient*in. So entschied sich der Kunstdozent Thomas Kapielski einige Handwerker einzuladen, als er den Film seinen Studierenden zeigte:

      «While the students were completely enthralled by the playfulness and the sensation


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