Die Säbelschwadron. Simon Raven
»Verzeihung, aber genau das hast du nicht getan.« Bis eben hatte Earles Stimme noch gereizt und ärgerlich geklungen; jetzt nahm sie den kalten Ton von jemandem an, der aller Hoffnung zum Trotz dennoch zum zwanzigsten Mal einem zurückgebliebenen Kind einen simplen Sachverhalt zu erklären versucht. »Du hast überhaupt nichts gedacht«, sagte er. »Du hast vollkommen falsche Prioritäten gesetzt. Du bist so mit deinen eingebildeten Ängsten beschäftigt, dass du die wahren Gefahren nicht siehst. Du machst dir so viele Gedanken, ob du einen Regenschirm mitnehmen sollst oder nicht, wenn du aus dem Haus gehst, dass du darüber vergisst, warum du rausgehen willst. Oder nimm deinen Sozialismus: Du machst dich halb krank mit deinen Überlegungen, ob irgendein blöder Arbeiter einen Schilling mehr pro Tag bekommen sollte, und kriegst darüber nicht mit, dass dein gesamtes Land gerade bankrottgeht … Oder du hast Angst, dass dich alle hassen, weil du ein Jude bist. Es ist den Leuten, den meisten von ihnen, vollkommen schnuppe, wie du’s mit dem Speck hältst. Was sie stört, ist die Art und Weise, wie Leute wie du ihre Gewissenhaftigkeit auf der ganzen Welt vor sich hertragen, von Moral und Gerechtigkeit reden und herumjammern, und nur Ärger machen, wo vorher alles ruhig und friedlich war.«
»Aber dir gegenüber … Ich hab doch gar nicht über so was geredet … weil ich wusste, dass dich das sowieso nicht interessieren würde.«
»Man konnte es dir die ganze Zeit ansehen. Egal, wo wir hingegangen sind, egal, was wir angeschaut haben – du hast dieses vor Gewichtigkeit triefende Gewissen vor dir hergetragen, als wärst du damit allein auf weiter Flur.«
Zwei große Tränen bildeten sich in Daniels inneren Augenwinkeln.
»Wenn du das so empfunden hast, wieso hast du das nicht längst gesagt? Statt mich denken zu lassen, du würdest mich mögen, mich gern um dich haben. Und warum musstest du es so grausam anstellen? Am einen Tag noch wie immer, am nächsten dieser fürchterliche, stille Hass.«
Nun endlich drehte Earle sich zu ihm um.
»Es ist kein Hass. Es ist Angst. Ich habe Angst vor dir, Daniel.«
»Angst? Vor mir ?«
»Angst vor dem, was du tun könntest … ohne es zu wollen, sogar ohne es zu wissen. Ich habe Angst vor diesem unermüdlichen, feinsinnigen Geist, den du hast, der diese toten Zeichen einfühlsam wiederbelebt. Warum kannst du sie nicht einfach ruhen lassen, Daniel?«
»Aber du … du hast mich doch immer bestärkt.«
Earle blickte sich vorsichtig um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sie beobachtete. »Hör zu, Dannyboy«, sagte er und kam dabei ganz nah an Daniels Ohr. »Verschwinde aus Göttingen. Leg diese Zeichen wieder in das Grab zurück, in das sie gehören, sag jedem laut und deutlich, dass du nichts mit ihnen anfangen kannst, und dann geh heim.«
»Jetzt doch nicht. Das könnte ich nicht. Ich fange gerade erst an zu verstehen …«
»Du verstehst überhaupt nichts«, zischte Earle ihn an. »Du würdest noch nicht mal zuhören, wenn es dir jemand erklären würde.« Er fasste Daniel in die Armbeuge. »Geh heim, bevor es zu spät ist«, zischte er. »Hau einfach ab!«
Und dann ging er, sehr schnell, über den Wall davon.
Das war Mitte Juni gewesen, und Daniel hatte ihn seither nicht mehr gesehen. Danach hatte sein Leben nur noch aus Arbeit bestanden.
Diese wurde von Tag zu Tag faszinierender, und er war der Meinung, dass er jetzt kurz vor einem wichtigen Durchbruch stand. Stimmte das, dann war Teil eins des Problems, das Dortmunds Notation darstellte, bald gelöst, und er könnte zumindest schon einmal die früheren Matrizen verstehen. Die nächste Hürde bestand dann, wie von Bremke ihn gewarnt hatte, in Dortmunds Umschwenken auf eine andere Verwendungsweise, mit der wohl eine Verlagerung des Zwecks einhergegangen war, oder genauer gesagt eine klarere Bestimmung des Zwecks. Das war ein Problem, das sich erst in der Zukunft stellen würde, doch Daniel hatte schon weit genug vorausgeschaut, um eine allgemeine Hypothese zu haben. Dortmund, so nahm er an, hatte zunächst die Matrizen entwickelt und mit ihnen die Notation, durch die sich diese ausdrücken ließen, noch ohne ein bestimmtes Ziel damit zu verfolgen; er hatte ein mathematisches Instrument ausgearbeitet und sonst nichts. In einem späten Stadium dieser Entwicklung schien Dortmund jedoch schlagartig klar geworden zu sein, dass dieses Instrument sich, wenn man gewisse ziemlich komplexe Anpassungen vornahm, sehr gut für eine ganz bestimmte Art von Untersuchung eignen würde. Das entsprach natürlich weitgehend dem, was schon von Bremke angedeutet hatte, doch war Daniel in einer Hinsicht einen Schritt weitergekommen: Er hatte inzwischen eine kühne Idee, was für eine Untersuchung genau es war, auf die Dortmund sich verlegt hatte; und diese stand, wenn er richtig lag, viel enger, als er zu hoffen gewagt hatte, mit der Forschungsaufgabe in Beziehung, die er selbst letzten Endes verfolgen wollte.
Er hatte also zu tun gehabt, insgesamt gesehen mit sehr gutem Ergebnis – doch war Arbeit allein nicht alles.
Ich kann Dir gar nicht sagen (schrieb er, weltmännische Gewandtheit vorschützend, an Jacquiz Helmut), wie eintönig Göttingen gerade ist. Der deutsche Sommer scheint alles Leben auszudörren. Mir war früher nie bewusst, was es heißt, auf einer Insel zu leben, auf der man nie weiter als eine Stunde oder so vom Meer entfernt ist.
Mein amerikanischer Kumpel ist verschwunden. Er fing im Juni an, schlechte Laune zu demonstrieren, ohne dass ich erfahren habe, warum, und hat sich am Ende in einem Anfall plötzlicher Pikiertheit aufgeplustert – und seither ist er nicht wieder aufgetaucht. Das war eine sehr seltsame Sache. Anfangs dachte ich, der Grund sei vielleicht Missgunst wegen meiner Arbeitsdisziplin – denn der arme Earle hat in seine eigene Arbeit, wie mir schien, nie so recht hineingefunden, oder wusste nicht, wo er überhaupt anfangen sollte. Doch nachdem ich noch mal darüber nachgedacht habe, habe ich mir überlegt, dass Missgunst nicht zu ihm passt. Ich habe das Gefühl, dass er verärgert war, weil er meinte, dass ich meine Zeit mit etwas zu Schwierigem verschwende und dass, selbst wenn ich das Problem lösen könnte, das Ergebnis weder mir noch sonst jemandem etwas bringen wird … (Das, dachte Daniel, war keine ganz ehrliche Einschätzung, sondern nur das, was er Jacquiz Helmut zum derzeitigen Zeitpunkt erzählen wollte.) … Und doch ist es schwer zu wissen, warum er sich so verhalten hat. Er hat mir zugesetzt, als würde ich schwarze Magie betreiben oder den Stein der Weisen finden wollen. Ich bin sicher, hier liegt irgendeine simple, aber unterhaltsame Schrulle der transatlantischen Psychologie vor, die Du mir im Handumdrehen erklären wirst, wenn wir uns wiedertreffen.
Ich hoffe, das wird bald sein, denn es wäre schön, mal mit jemandem zu reden. Meine Wirtin ist durch langjährige Routine so gut darin, sich praktisch unsichtbar zu machen, dass sich mir hier keine Möglichkeit für ein Gespräch bietet. Herr Doktor Aeneas von Bremke, den ich, seit ich meine Aufwartung gemacht habe, ohnehin kaum gesehen habe, hat sich den Sommer über in eine Berghütte im Harz zurückgezogen. Selbst der Bibliothekar, der mir gern davon erzählt hat, wie er vor dem Krieg Student am Lancaster College war, ist an den Bodensee abgereist, wo er jedes Jahr einen Monat Ferien macht, und sein Assistent ist ein unzufriedener, selbstmitleidiger junger Mann mit farbenfrohen Pickeln im Gesicht. Und die Krönung von allem ist, dass nun auch noch mein Lieblingsrestaurant seine Tore für drei Wochen geschlossen hat.
Es wäre schön, wenn Du für ein paar Tage herkommen könntest. Ich weiß, dass der Inhalt meines Briefes keinen großen Ansporn darstellt, aber Göttingen ist tatsächlich eine sehenswerte kleine Stadt, für eine Universität wie geschaffen … würde sich hier doch nur der Anblick eines vertrauten Gesichts (oder wenigstens die Hoffnung darauf) bieten.
Mir ist natürlich vollkommen klar, dass Du Cambridge jetzt nicht verlassen kannst. Du arbeitest gewiss gerade sehr intensiv an Garibaldi, und natürlich bieten die langen Sommerferien sich immer ganz besonders fürs Arbeiten an – das College halb leer, nur eine Handvoll Freunde da, mit denen man sich in fröhlicher kleiner Runde zusammenfinden kann, wenn einem danach ist. In Göttingen ist mir solche Fröhlichkeit versagt, daher denke ich oft an Dich und male mir aus, was Du zu dieser oder jener Stunde wohl gerade tun magst.
Gerade ist doch sicher das Sommerfestival in vollem Gang. Im März hieß es, dass die Marlowe Society im Juli »Der Familientag« aufführen will, nicht unbedingt mein Lieblingsstück, obwohl ich