Die Säbelschwadron. Simon Raven
hierzulande dafür bekannt war, nicht nur die Zunge zu lockern, sondern auch der Verdauung mehr Pfiff zu geben. Die Bedienung war schlicht, aber schnell, und der Raum, in dem sie saßen, war gemütlich und einladend, so dass sich alsbald eine vertrauliche Stimmung einstellte. Obwohl es nicht Daniels Art war, viel über sich zu erzählen, wenn er jemanden nicht schon länger kannte, erwähnte er hier, beim dritten Krug Wein, seinem Begleiter gegenüber doch tatsächlich jene Ängste, über die er bisher nur mit Jacquiz Helmut gesprochen hatte.
»Die Eltern meines Vaters waren Juden … aus Hannover. Sie waren so klug, das Land schon früh zu verlassen, in den späten zwanziger Jahren. So ist Deutschland, wie Sie sehen, Earle, in gewisser Weise doch auch mein Land … und zugleich das Land, das mich abgelehnt hat.«
Restarick überlegte.
»Können Sie Deutsch?«, fragte er.
»Nur ein paar Wörter aus dem Sprachführer. Meine Großeltern sind beide gestorben, als ich vier war, und mein Vater wollte nicht, dass die Sprache in seinem Haus gesprochen wurde. Er hat die meisten deutschen Bücher meines Großvaters weggegeben. Und den Rest verbrannt.«
»Wenn Sie kein Deutsch sprechen, so ist das hier nicht Ihr Land.«
»Dennoch habe ich das Gefühl, als würde ich hierher zurückkehren … zurückkehren an einen Ort, der mich verstoßen hat … so dass ich mich mehr davor fürchte, als wenn ich eben einfach bloß zum ersten Mal herkommen würde.«
»Aber Sie kommen einfach bloß zum ersten Mal her«, insistierte Restarick. »Wie lange auch immer Ihre Vorfahren in Hannover oder sonst einer verfluchten deutschen Stadt gelebt haben mögen, Sie wurden in England geboren, Sie besitzen einen englischen Pass und Sie hatten bis vor sechzehn Tagen noch nie einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt. Die Leute hier können Ihnen gar nichts wollen, rein gar nichts.«
»Die sehen das anders.«
Trotzdem fand er dieses Gepolter auf merkwürdige Weise tröstlich.
»Die Engländer«, fragte Restarick beharrlich weiter, »die haben Ihren Vater doch 1939 nicht interniert?«
»Nein. Sie haben ihm Arbeit gegeben, im Informationsministerium.«
»Und Ihre Mutter? Sie sagten, Sie sei weder deutsch noch jüdisch?«
Hatte er das erzählt? Er konnte sich nicht erinnern, aber es stimmte ja, also musste er es wohl erwähnt haben. Der Wein verwirrte seine Sinne.
»Sie war die Tochter eines englischen Oberschullehrers. Ganz strenge alte Schule war er – leitete ein Haus in einem der großen Internate. Ich habe ihn nie kennengelernt. Die Eltern meiner Mutter haben die Heirat missbilligt, wenn Sie verstehen, und die meines Vaters auch. Nicht dass sie strenggläubig gewesen wären, aber die üblichen jüdischen Festtage haben sie schon begangen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie mein Großvater am Kopf der Tafel stand und würdevoll und sanft ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹ sagte. Natürlich meinte er das nicht so, und ohnehin war er ein Jahr darauf dann tot. Kurz darauf starb auch meine Großmutter … und dann meine Mutter.«
»Sie muss noch sehr jung gewesen sein.«
»Ein Unfall am Fluss. In der Nähe von Staines, ausgerechnet dort. Die genauen Einzelheiten hat man mir nie gesagt, und irgendwie wollte ich auch nicht nachfragen. Manchmal überlege ich …«
»Sie überlegen zu viel. Ihr Problem ist«, sagte Earle Restarick, »dass Sie zu höflich sind, um geradeheraus eine Frage zu stellen, und danach quälen Sie sich dann, indem Sie sich einfach selbst morbide Antworten ausdenken.«
Daniel gefiel diese Diagnose. Wie recht er hat, dachte er bei sich; und ich habe hier tatsächlich das ganze Abendessen lang gesessen und nur über mich selbst geredet, ohne auch nur einmal den Versuch zu machen, etwas über Earle Restarick zu erfahren.
»Sagen Sie, Earle«, setzte er an, »was machen Sie hier in Göttingen?«
Für einen Moment sah Restarick erschrocken, ja fast ein wenig empört aus.
»Sie hatten mir eben nahegelegt«, sagte Daniel, »dass ich mir angewöhnen sollte, Fragen zu stellen.«
»Na sicher. Bloß dachte ich, die Antwort auf die hier wüssten Sie schon. Ich bin Historiker, wie ich schon sagte, mit dem Fachgebiet Zeitgeschichte. Haben Sie vielleicht von einem Typen in Oxford gehört, der Trevor-Roper heißt? Der Experte für die Führungsriege der Nazi-Partei ist und für alles, was passierte, als die ganze Sache zu bröckeln begann? Nun ja, ich gehe ein paar kleinen Hinweisen von ihm nach.«
»Dann waren Sie in Oxford?«
»Nein … Ich bin direkt aus Harvard hergekommen. Aber ich kenne die Arbeiten von diesem Trevor-Roper.«
»Aber Göttingen«, sagte Daniel sehr interessiert, »ist doch eigentlich gar nicht der Ort, an dem man da in die Tiefe gehen könnte. Ein friedliches akademisches Provinznest, in dem man ruhig vor sich hindümpeln konnte.«
»Es treibt eine Menge Zeug dorthin, wo man herumdümpeln kann«, sagte Restarick scharf. »Man weiß nie, was man unter dem Unrat alles so findet!«
Daniel öffnete den Mund, um etwas dazu zu sagen, aber Restarick war schneller: »Außerdem«, sagte er, »gibt es eine familiäre Verbindung hierher. Ein Onkel von mir, der hat hier 1910 studiert. Mütterlicherseits – der Teil, der in Boston lebt.«
Er hielt inne, um zu sehen, ob die Bedeutung des Gesagten bei Daniel ankam. Daniel, der sich mit den Feinheiten gesellschaftlicher Abstufungen bei den Amerikanern nicht gut auskannte, nickte einfach nur unverbindlich.
»Vaters Familie kommt eigentlich auch aus Boston«, sagte Restarick stirnrunzelnd, »aber sie ist schon vor längerer Zeit nach Connecticut übergesiedelt.«
»Wie lange sind Sie schon in Göttingen?«, sagte Daniel leicht irritiert von diesem Maß an topografischer Penibilität.
Wieder wirkte Restarick erschrocken und empört.
»Seit Beginn dieses Jahres …«
Es klang beinahe verstohlen. Doch dann blickte Earle Restarick Daniel an und lächelte sein Lächeln. Jetzt nach dem Wein versprach es sogar noch mehr als zuvor; es versprach Helena von Troja, den Schatz des Minos, den Baum des Lebens.
»Ich bin hier sehr einsam gewesen, Daniel«, sagte er. »Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind … Freunde?«
Es war zugleich eine Bitte und ein Angebot, bescheiden, aufrichtig, unwiderstehlich.
»Bestell noch Wein«, sagte Daniel, »den besten!«
Nach diesem Abend in Bremke trafen sich Earle Restarick und Daniel Mond über einen Monat lang fast jeden Tag, sie aßen zusammen zu Abend, machten Spaziergänge, nutzten den Mercedes aus dem Jahr 1935 für Ausfahrten. Daniel hätte keine Sorge haben brauchen, dass Earle ihn bei der Arbeit stören könnte. Im Gegenteil, es war eines der größten Anliegen seines neuen Freundes, herauszufinden, zu welcher Uhrzeit es Daniel am besten passen würde, ihn zu treffen oder von ihm abgeholt zu werden, und er tauchte nicht ein einziges Mal zu früh bei ihm auf. Auf diese Weise weit davon entfernt, Daniel abzulenken, schien Earle sich zudem dafür zuständig zu fühlen, seine Vergnügungen in Schranken zu halten.
»Ich weiß nicht, ob du wirklich einen Tag freimachen solltest«, würde er etwa sagen, irgendeinen geplanten Ausflug nach Hannover oder in den Harz betreffend.
»Aber es ist doch nur das eine Mal.«
»Genau solche Ausreden können ganz schnell zu einer schlechten Angewohnheit werden … insbesondere wenn man einen schwachen Charakter hat, wie du.«
Denn Earle war überzeugt, dass Daniels Natur allzu leicht beeinflussbar war und er sowohl zur Unnachgiebigkeit erzogen als auch geschützt werden musste. Daniel, der sich gern bemuttern ließ, genoss diese Bemühungen um sein Wohlergehen, und umso mehr, da diese kaum wirklich nötig waren. Denn mit seiner Arbeit kam er stetig und gut voran; und wenn überhaupt jemand es nötig hatte, daran erinnert zu werden, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, dann war das Earle selbst, der keinen festen