Die Säbelschwadron. Simon Raven
bei der Entwicklung neuer Heilverfahren für Blutkrankheiten.«
»Indem die grundlegenden Theorien der Stochastik auf das Verhalten der Blutkörperchen angewendet werden«, sagte Daniel. »Jedes Kind könnte das.«
Zu den Dingen, mit denen sich Daniel das Leben schwermachte, gehörte, dass er oft, einfach aus Nervosität, entweder viel mehr oder viel weniger sagte, als er eigentlich wollte. Entweder wirkte er dann vergnatzt (statt über allem zu stehen), oder aber speichelleckerisch (statt sich besonnen zurückzuhalten). In diesem Fall nun hatte er sich aus Missfallen zu einer inakkuraten Äußerung hinreißen lassen und erwartete mit Schrecken Constables Erwiderung. Zu seinem großen Glück klingelte da jedoch das Telefon.
»Leitender Tutor, Lancaster College«, sagte Constable und horchte dann drei Minuten lang mit wachsender Ungeduld in den Hörer. »Ich bestelle ihn heute Abend ein«, schnauzte er in den Apparat, »wenn er in einer Woche nicht gezahlt hat, kann er seine Sachen packen und heimfahren.«
Ärgerlich, mit wild blitzenden Augen, wandte er sich wieder Daniel zu.
»Nichtswürdiger Kerl!«, sagte er. »Kommt hier ans College und tut so, als wäre er reich, Champagnerpartys und Leihwagen, sorgt für allerlei Unmut unter den weniger begüterten Studenten, und bleibt dann seiner Vermieterin das Geld schuldig!«
Constable sprach, wie Daniel bemerkte, das Wort »Unmut« aus, als wäre dies eine rühmliche Gemütsregung, die ihren Träger adelt.
»Entweder er zahlt oder er kann von hier verschwinden«, schimpfte Constable weiter, vor Entrüstung nicht mehr so gewählt und in schärferem Ton. »Mit der Dollerei ist jetzt Schluss. Extravaganz toleriere ich nicht«, sagte er, langsam wieder aufs Allgemeine zurückkommend, als sein Ärger nachließ, »auch nicht bei denen, die es sich leisten können. Wo waren wir stehengeblieben?«
»Wissenschaftliche Abhandlungen und andere Dokumente an der Universität Göttingen«, sagte Daniel. »Insbesondere, meint Dirange, der Nachlass von Dortmund.«
»Was ist denn an dem so interessant?«
»Als er 1938 starb, war er dabei, einen neuen Matrizentyp auszuarbeiten. Er hatte die Idee, dass die Zeichen nicht wie bisher nur zweidimensional rechtwinklig angeordnet werden sollten, sondern dreidimensional, womit sich die Zahl der Beziehungen zwischen ihnen stark erhöhen würde.«
»Wie dreidimensionales Schach?«
»Ein recht guter Vergleich«, sagte Daniel und bemühte sich, dabei nicht überheblich zu klingen. »Die Schwierigkeit war jedoch, dass das Ganze zu Papier gebracht werden musste, so dass er auf eine vollkommen neue Notation angewiesen war – um sozusagen die dritte Dimension mit einzubauen.«
»Hätte er«, sagte Constable angestrengt und mit leichtem Verdruss, »nicht einfach dreidimensionale Koordinatenrahmen aufstellen können – aus Draht oder Ähnlichem – und dann kleine Pappstückchen nehmen, mit draufgeschriebenen Symbolen? Die er dann hätte dranklemmen können?«
»Hätte er. Hat er vielleicht auch. Das hätte ihm aber nicht viel gebracht, sobald es ans Publizieren gegangen wäre. Ich meine«, sagte Daniel, und kam sich dabei außerordentlich blöd vor, »er konnte ja wohl kaum kleine Drahtkäfige mit allerlei darin herumbaumelnden Symbolen um die halbe Welt schicken. Also hat er diese neue Notation erdacht, mit der er auf dem Papier abbilden konnte, was er wollte. Und er starb, bevor er sie irgendwem erklärt hatte.«
Constable sagte nichts, ein Zeichen vorbehaltlicher Zustimmung.
»Seine Witwe«, fuhr Daniel fort, »hat all seine Aufzeichnungen der Universität vermacht. Die Nazis waren zuerst sehr neugierig darauf, doch als man ihnen mitteilte, dass Dortmunds Arbeit nicht von erkennbarer wissenschaftlicher Bedeutung sei, verloren sie das Interesse. Eigentlich war es aber so, dass in Wahrheit überhaupt niemand die neuen Zeichen deuten konnte, die Dortmund erfunden hatte. Es gab einige helle Köpfe in Göttingen, und sie holten noch weitere von außerhalb dazu, und doch konnten sie den Code nicht knacken … sozusagen. Dirange jedoch glaubt«, sagte Daniel, sich windend wie Uriah Heep, »dass es mir womöglich gelingen würde … das alles zu entwirren. Was bedeuten würde, dass ich die Matrizen von Dortmund nachvollziehen könnte – und diese mir wiederum als Schlüssel dienen könnten bei einem Teil meines eigenen Forschungsinteresses.«
»Als Schlüssel dienen könnten bei einem Teil«, betonte Constable.
»Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, würde sich die Arbeit lohnen. Dortmund war nie ganz in vorderster Reihe mit dabei, aber er war ein wichtiger Mann. Was er in diesen letzten Jahren seines Lebens gearbeitet hat, sollte wahrgenommen und verfügbar gemacht werden.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Es läuft also darauf hinaus«, sagte Constable freundlich, aber bestimmt, »dass Sie möchten, dass die Collegeleitung Ihnen genehmigt, für einige Zeit nach Göttingen zu gehen. Dort wollen Sie dann eine ehrgeizige Aufgabe bewältigen, an der gestandene Kollegen seit Jahren scheitern und die Sie, selbst wenn Sie es schaffen sollten, womöglich bei Ihrem eigenen Vorhaben, mit dem Sie sich damals bei uns um Ihr Forschungsstipendium beworben haben, gar nicht weiterbringt.«
»Dirange …«
»Dirange mag in der Mathematischen Fakultät hohes Ansehen genießen, aber er ist kein Mitglied unseres Colleges, geschweige denn der Collegeleitung. Das Führungsgremium muss sich auf eine offizielle Linie verständigen. Ihnen wurde im Juli letzten Jahres, 1951, Ihr Postgraduiertenstipendium zugesprochen«, sagte Constable und kräuselte sein pedantisch blickendes, jungenhaftes Gesicht in gewissenhaften Bedenken. »Das bedeutet, dass wir den ersten Manuskriptentwurf Ihrer Forschungsarbeit bis Weihnachten 1952 vorliegen haben möchten – diese Weihnachten. Was also, wenn sich herausstellt, dass Ihre Arbeit in Göttingen Sie in eine Sackgasse führt – wie interessant diese auch sein mag? Ihnen bliebe niemals genügend Zeit, wieder auf Ihren eigentlichen Weg zurückzuschwenken und bis Weihnachten eine wissenschaftliche Arbeit abzuliefern. Dies«, meinte Constable, »würde dem Führungsgremium des Colleges sehr missfallen. Es handelt sich schließlich um eine vertragliche Verpflichtung.«
»Ich bin bereit«, sagte Daniel schniefend, »dieses Risiko einzugehen.«
»Sie vielleicht schon. Aber es sind ja wir, die in Sie investieren. Wie ich schon sagte, wenn gestandene Kollegen seit 1938 immer wieder an dem Problem gescheitert sind …«
»Dann könnte es möglicherweise sein, dass dieses Problem jemand Jüngeren mit einem neuen Ansatz erfordert. Das ist ja eben der Punkt«, sagte Daniel, mit schriller werdender Stimme, »dass in der theoretischen Mathematik die beste Zeit, in der wirklich kreative Arbeit entsteht, die jungen Jahre sind. Wenn man also denkt, dass man seinen Weg vor sich sieht – und das ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden –, dann muss man ihm unverzüglich folgen. Wenn man erst dreißig ist, bleibt einem nichts mehr zu tun, nur Konsolidierung.«
»Und Sie sind … wie alt?«
»Zweiundzwanzig.«
»Womit Ihnen noch acht Jahre bleiben.« Constable schaute Daniel fragend an, rieb kurz an ein paar Pickeln herum, die nicht zu seinem engelhaften Erscheinungsbild passen wollten, und ließ dann jeden Ausdruck aus seinem Gesicht weichen, ein deutliches Zeichen (zumindest für diejenigen, die ihn, wie Daniel, einschätzen konnten), dass er eine Entscheidung getroffen hatte. »Acht Jahre. Wirklich nicht lang. Hoffen wir also«, sagte Constable, betont fröhlich und energisch, »dass Ihr Sommer in Göttingen sich nicht als verschwendete Zeit erweisen wird. Denn ich werde dem Führungsgremium des Colleges empfehlen, Ihrem Ansuchen stattzugeben – ich denke also, dass Sie das als erledigt betrachten können. Doch da gibt es ja gewiss noch ein weiteres Problem, das zu bedenken ist, oder, Daniel?«
»Ich weiß«, sagte Daniel. »Ich denke die ganze Zeit schon darüber nach.«
* * *
Jenes »weitere« Problem hatte er einige Tage später mit seinem Jahrgangskollegen, dem Historiker Jacquiz Helmut, besprochen.
»Es ist nicht so, dass die Deutschen dir etwas antun könnten«, hatte Helmut gesagt, während er seinen Blick von der Lancaster