Die Säbelschwadron. Simon Raven

Die Säbelschwadron - Simon Raven


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er, knallte die letzte Lade zu und blickte Daniel vorwurfsvoll an: »Es ist eine Schande, nichts in so einem schönen Aktenschrank aufzubewahren.«

      »Ich bewahre meine Sachen zu Hause auf … Nur noch diese letzte Zeile.«

      »Zu Hause? Aber das kann ja wohl nicht sein. Ihr Zuhause ist in Großbrit… England.«

      »In meiner Unterkunft«, sagte Daniel und biss die ­Zähne zusammen. Vielleicht konnte er es auch einfach bleiben lassen, freundlich zu sein? Vielleicht konnte er sagen, dass er sich plötzlich unwohl fühle? Er schaute von seiner zu Ende gebrachten Arbeit auf und musste feststellen, dass Restarick ihn anlächelte. Nach der Belanglosigkeit all dessen, was der Mann bisher gesagt hatte, versprach sein Lächeln doch immer noch etwas, das ganz und gar nicht gewöhnlich war. Nämlich eine Einladung nach Xanadu. Oder von den Goldenen Äpfeln kosten zu dürfen. Jedenfalls etwas, das man ganz gewiss nicht einfach so ablehnen sollte. Du musst mir folgen, sagte dieses Lächeln, und selbst sehen. Na gut, dachte Daniel. Dieses eine Mal zumindest werde ich das tun.

      »Tut mir leid, dass es noch gedauert hat«, sagte er, und war überrascht, wie eifrig seine eigene Stimme klang. »Jetzt ist es geschafft.«

      Draußen auf der Straße stand, diese blockierend, ein Mercedes aus dem Jahr 1935 – die Art Auto, mit der deutsche Generäle in Kriegsfilmen umherfuhren (und Zigarre rauchend ihren gutaussehenden Adjutanten gegenüber zynische Bemerkungen machten). Ein deutscher Polizist, der sich in der Nähe herumgedrückt hatte, inspizierte Restarick genau und stiefelte dann ärgerlich davon.

      »Noch ist das Land besetzt«, war Restaricks Kommentar gewesen, »aber nicht mehr lange. Nächstes Jahr wird er bei so einer Gelegenheit eine Entschuldigung fordern, und im Jahr darauf wird er versuchen, einen dafür zu belangen. Die Schirmmützen kehren zurück, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist.«

      Sowohl den Wagen wie auch die Beobachtung fand Daniel bezeichnend. Das eine deutete auf einen Hang zur Eleganz und Individualität hin, das andere auf eine Redegewandtheit, die Restarick zuvor nicht offenbart hatte. Außerdem kam ihm Restaricks Bemerkung bedenklich vor, ihre unhinterfragte An­­erkennung von Autoritäten, sei es die eigene oder die des schirmmützigen Polizisten, der in Bälde auf seinen Platz zurückdrängen würde. Noch fünf Minuten später, als sie die letzten Vororte hinter sich ließen und einer holprigen Straße in südöstlicher Richtung folgen, versuchte Daniel dies nervös zu analysieren.

      »Abendessen!«, sagte Restarick. »Bremke, wir kommen.«

      »Abendessen bei Doktor von Bremke? Aber hat er uns eingeladen? Mir hat er gesagt, er könne niemanden empfangen. Seine Frau …«

      »Er doch nicht … obwohl es da möglicherweise eine Verbindung gibt. Bremke ist ein Dorf ungefähr fünfzehn Kilometer von hier. Dort gibt es einen Gasthof, in dem man uns ein vorzügliches Essen servieren wird. Kalbssteak, in Milch geschmort. Sie sind nicht orthodox, oder?«

      »Nein, ich bin nicht orthodox.«

      »Da haben Sie Glück. Die Steaks dort sollte man sich nicht entgehen lassen. Und davor werfen wir vielleicht einen Blick auf die Grenze – damit wir ordentlich Appetit bekommen. Denn ich glaube nicht«, sagte Earle Restarick träge, »dass in Ostdeutschland heute Abend viele Leute in Milch geschmorte Kalbssteaks zum Abendessen haben.«

      »Ich wusste gar nicht, dass die Grenze tatsächlich so nah ist.«

      »Man steigt hinter diesem Gasthaus, von dem ich erzählt habe, den Berg hoch, und dann sieht man sie. Direkt hinter der nächsten Talsenke.«

      Und so waren sie auf den Berg gestiegen, um sich die Grenze anzuschauen.

      Ein bedrückender Anblick (wie Daniel ein oder zwei Tage später an Robert Constable in Lancaster schreiben würde), ein hoher Zaun mit unterschiedlich dickem Stacheldraht und kurz dahinter, auf der anderen Seite, alle Viertelmeile ein Wachturm. Es war schon Abend, als wir sie sahen, so dass das Tal zwischen uns und dem Bergzug, an dem sie entlangführt, in tiefem Schatten lag, während der Zaun selbst mit jedem Detail noch sichtbar war und dadurch wie das einzig klar herausstechende Wirkliche in einer Schattenwelt wirkte. Nicht nur das, sondern die Sonne, die ihr Licht auf die Drahtstränge warf, vermittelte zudem den Eindruck, das ganze Netzwerk stehe lebendig unter einer Art bösem Strom, der auf jedes Lebewesen, das ihm nahekäme, überspringen und es zu Asche verbrennen würde.

      Am bedrückendsten war jedoch ein kleines Dorf, das etwa einen Kilometer weit auf der anderen Seite landeinwärts lag. Wissen Sie, auf den ersten Blick hätte es beinahe dasselbe Dorf sein können, in dem wir soeben den Wagen abgestellt und unsere Bestellung fürs Abendessen aufgegeben hatten. Das gleiche Weideland darum herum, die gleichen kleinen Hügel dahinter, die gleichen freund­lichen Häuser mit ihren grauweißen Mauern und roten Dächern, mit Scheunen und Stallgebäuden und Höfen; und doch, weil es sich im Krieg so ergeben hat, weil vor sieben oder acht Jahren und vielleicht auf unterster Dienstebene eine taktische Entscheidung getroffen wurde, war das Dorf auf der anderen Seite verdammt und wurde aufgegeben – und ist zu einer Gegend jenseits des Styx geworden, wo sie, die blassen und blutlosen Geister, sich auf ewig durch ihre trostlosen Tage schleppen müssen. Und falls es tatsächlich noch Bewohner in dem Dorf geben sollte, können diese wahrhaftig nur Geister sein, denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es schon vor geraumer Zeit verlassen wurde, wahrscheinlich, weil es zu nah an der Grenze liegt und das den offiziellen Stellen nicht behagt. Das Weideland ist verwildert, die Hügel sind kahl (Bäume würden vor den Blicken aus den Wachtürmen schützen), die roten Dächer sind verwittert und schadhaft, die Höfe heruntergekommen.

      »›Cold Comfort Farm‹«, sagte mein amerikanischer Freund.

      Zuerst dachte ich, das sei einer seiner kaltschnäuzigen Witze, von denen er schon zwei oder drei zum Besten gegeben hatte, obwohl ich ihn erst eine Stunde lang kannte. Doch als ich ihn anschaute, sah ich, dass ihm die Sache sehr naheging, dass sein Gesicht wutverzerrt war. Eine vollkommen verständliche Reak­tion, und doch war da etwas an der Art, wie er sein Kinn vorreckte, das mich mit einem unguten Gefühl erfüllte, weil mir schien, dass nicht so sehr Gram oder Entrüstung im Spiel war, sondern Verachtung. Ich habe mir jedoch in dem Moment nicht viel dabei gedacht, weil ich mich selbst erst einmal sammeln musste. Als jemand, dessen Herz links schlägt, hatte ich einen Dämpfer bekommen und wollte mir gerne einreden, dass es so schlimm ja wohl nicht sein konnte. Weil alles friedlich dalag und man den brutalen Zaun in der zunehmenden Dunkelheit immer schlechter sehen konnte, hatte ich mich fast schon überzeugt – sie sind sicher gar nicht so unglücklich da drüben, dachte ich bei mir, alles, was man über Unfreiheit und Hunger hört, ist bloß Propaganda, wie dumm von mir, gerade jetzt von ihnen zu denken, sie wären verdammt.

      »Sehen Sie mal«, sagte ich in verstiegener Hoffnung zu Restarick, »da drüben gehen die Lichter an. Wie überall sonst auch.«

      »Selbstverständlich gehen die Lichter an«, sagte er, »in den Wachtürmen.«

      Und er zeigte auf einen davon, von dem aus plötzlich ein Suchscheinwerfer in Richtung des verfallenden Dorfes ins Dunkel stach und dann in einem langen Bogen Meter für Meter das im Osten zum Zaun hinführende Gelände absuchte.

      Jeden Tag, Robert, riskieren Ostdeutsche in Gruppen von zehn, zwanzig oder hundert ihr Leben, um in diesem Gebiet die Grenze zu überqueren. Es wurden Flüchtlingslager eingerichtet; nicht weit von Göttingen gibt es ein großes, zu dem mich Restarick bald mal mitnehmen will, wie er mir versprochen hat. Er sagt, dass es bereits jetzt grauenvoll überfüllt ist – es ist leichter, aus einem alten Leben zu entfliehen, als in einem neuen aufgenommen zu werden. Und doch strömen sie aus dem Osten hierher, ducken sich unter den grausamen Suchscheinwerfen hindurch, reißen sich ihr Fleisch an den Zäunen blutig.

      Sie müssen das unseren Freunden erzählen. Den leichtfertigen Behauptungen, dass jenseits der Grenze alles (mehr oder weniger) in Ordnung sei, muss Einhalt geboten werden. Heuchelei ist auf sozialistischer Seite noch übler, als wenn sie von den Rechten kommt, weil wir uns auf moralische Integrität berufen, während jene sie einfach als Mittel zum Zweck verkaufen können, das sich für sie seit jeher bewährt hat …

      Doch allen Zweifeln und Gefühlen, die der Stacheldrahtzaun geweckt hatte, zum Trotz war der Abend


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