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dir denn zumute, wenn du dort hingehen solltest?«

      »Bei mir ist das was anderes.« Helmuts Augenbrauen, die sich normalerweise in der Mitte trafen, schienen kurz in höflichem Protest auseinanderzustreben. »Ich bin schließlich ein waschechtes Exemplar. Du hast nur väterlicherseits jüdische Familie und bist somit streng genommen gar kein Jude.«

      »Das haben die Nazis aber anders gesehen.«

      »Die Nazis sind jetzt endgültig verschwunden.«

      »Nein, sind sie nicht«, sagte Daniel. »Genau darum geht es mir ja. Die Uniformen sind verschwunden, aber sie wurden von einer ungeheuren Menge Leute getragen, und die sind noch da. In jedem Ladengeschäft, jedem Restaurant, auf den Straßen …«

      »Die sind jetzt viel zu beschäftigt, um sich mit dir zu befassen«, wischte Helmut dies souverän beiseite. »Die müssen jetzt sehen, wie sie ihr Auskommen finden. Ein ganzes Land neu aufbauen. Glaub mir, für meinen Geschmack geht das ein klein wenig zu schnell mit dem Aufbauen, aber bei all der Arbeit kommen die für die nächste Zeit erst mal nicht wieder auf dumme Gedanken.«

      Er drehte sich vom Brückengeländer weg, verschränkte die Hände vor seinem Schritt und zeigte mit einem leichten Kopfnicken an, dass er nun ein Stück zu gehen gedachte. Sie liefen schweigend durch die Allee hinüber zum Fellows’ Garden, und Daniel sah sich dabei wie üblich der unschönen Mühe ausgesetzt, seine kurzen Beine mit dem erhabenen Ausschreiten seines fast zwei Meter großen Weggenossen in Einklang zu bringen.

      »Für jemanden, der durch und durch jüdisch ist, dürftest du eigentlich gar nicht so groß sein«, sagte Daniel verärgert.

      »Unter den Juden ist, wie anderswo auch, ein hoher Körperwuchs ein Zeichen aristokratischer Abkunft.«

      Man konnte bei Jacquiz Helmuts Bemerkungen nicht immer ohne weiteres erkennen, ob er sie ernst meinte oder nicht. Erneut schweigend erreichten sie das Tor zum Fellows’ Garden. Helmut zog einen Schlüssel an einer goldenen Kette hervor und ließ sie ein.

      »Mir hat man keinen Schlüssel gegeben«, sagte Daniel griesgrämig.

      »Du musst bloß am Pförtnerhäuschen danach fragen. Alle höheren Semester, die hier wohnen, dürfen einen haben.«

      »Ich habe gefragt. Mr. Wilkes sagte, die Schlüssel wären alle schon vergeben.«

      »Das hat er zu mir auch gesagt. Aber ich habe ihm klargemacht«, sagte Helmut und runzelte kurz seine Kardinalsnase, »dass ich, wenn ich nicht am nächsten Tag einen Schlüssel hätte, den Finanzverwalter über seine Nachlässigkeit in Kenntnis setzen würde.« Er blickte herablassend im völlig menschenleeren Garten umher. »Wenig einladend«, sagte er, »aber zumindest ist man hier unter sich. Jetzt können wir uns ernsthaft deinem kleinen Problem widmen.«

      »Eben hast du gesagt, es gäbe kein Problem.«

      »Oberflächlich betrachtet nicht, in der Tat. Zunächst einmal siehst du nicht besonders jüdisch aus. Klein und dunkelhaarig bist du schon, aber ohne diese besonderen Gesichtszüge. Du, mein lieber Daniel, könntest alles sein. Und selbst wenn ganz Göttingen Kenntnis von deiner väterlichen Abstammung hätte, wenn man gar den ganzen Tag von morgens bis abends dort nichts anderes zum Thema hätte, so stündest du doch unter dem Schutz Seiner Britannischen Majestät, ihres Eroberers, der es nicht zulassen wird, dass sie dich wegfangen und zu Seife verarbeiten.«

      Helmut hielt an und betrachtete, mit wachsendem Verdruss, den Judasbaum, als wäre das ein Scherz der Art gewesen, die man zunächst für außerordentlich gut hält, um dann erst ihren taktlosen und schrillen Unterton wahrzunehmen.

      »Und doch«, fuhr er fort, »gibt es ein Problem, und sei es nur das, dass du meinst, eines zu haben.«

      Daraufhin schwieg er und fing an, mit beiden Händen über den Fellkragen seines Mantels zu streichen. Obwohl er sich nach außen hin weiter beherrscht gab, huschten seine Blicke doch besorgt und fast schon verstohlen umher.

      »Es gibt seit kurzem ein gelehrtes und sorgsam ausgearbeitetes Buch«, sagte er schließlich, »geschrieben von einem jüdischen Historiker, mit dem ich gelegentlich korrespondiere. Er will damit nachweisen, unverrückbar, dass einzig und allein die Römer für die Tötung von Jesus Christus verantwortlich waren.«

      »Einzig und allein?«

      »Du hast richtig verstanden. Jeder weiß, dass die Römer zum Teil, zu einem bedeutenden Teil, die Schuld dafür tragen, aber niemand, der bei Verstand ist, würde behaupten, dass die Juden vollkommen unschuldig waren. Und doch ist es ge­nau das, was mein Briefpartner, der eigentlich geistig alle beiein­ander hat und ein äußerst gebildeter Mann ist, verfechten möchte. Was sagt dir das?«

      »Dass wir ein selbstgerechtes Volk sind.«

      »Und was noch?«

      »Dass wir uns ein falsches Bild von uns machen wollen … zumindest in manchen Bereichen.«

      »Komm schon, Daniel! Was anderes!«

      Helmuts Tonfall war jetzt fordernd geworden, wie der eines Rugbytrainers, der mehr Einsatz verlangt.

      »Wir sind … ein selbstverliebtes Volk?«

      »Alle Völker sind das. Es ist schlimmer als das, Daniel: Wir sind von uns selbst besessen.«

      Sein fester Blick kehrte zurück. Nachdem er sich diese Beur­teilung abgerungen hatte, war offenbar seine gewohnte heiter-ironische Art wiederhergestellt.

      »Und nun zu deinem Problem«, sagte er. »Du meinst, grob gesagt, dass du in Deutschland umgeben sein wirst von den Mördern der Deinen, und dass sie auch dir Verderben bringen werden. Jedes Mal, wenn du im Zug deine Fahrkarte vorzeigen sollst – und in deutschen Zügen muss man immer seine Fahrkarte zeigen –, wirst du dir vorstellen, wie ebendieser Schaffner tausende Juden in Viehwaggons gepfercht hat. Anders gesagt: Du denkst nur in einem einzigen Begriffsmuster. Du bist – oder wirst, wenn du nicht aufpasst – selbstgerecht, selbstbetrügerisch, selbstverliebt und selbstbesessen.«

      »Selbstbetrügerisch?«, sagte Daniel nach eine langen Pause.

      »Ja. Du willst unbedingt glauben, dass das Massaker, das die Nazis unter den Juden angerichtet haben, das Einzige ist, was zählt, praktisch das Einzige, was jemals passiert ist, in der gesamten deutschen Geschichte. Versuch zur Abwechslung mal an etwas anderes zu denken. Denk auch mal an Arminius, Goethe, Theoderich oder Dr. Faustus … was immer du willst, aber vergiss, dieses eine Mal, Adolf Hitler.«

      »Du meinst … wir sollten einfach so tun, als wäre es nie passiert? All die Toten … die vorsätzliche Planung …«

      »Hör doch«, sagte Helmut. Er wackelte tadelnd vor dem Judasbaum mit dem Zeigefinger und stiefelte weiter Richtung Sommerhaus. »Hör mir zu – und das ist das Letzte, was ich dir zu diesem schwierigen Thema sage. Das Verbrechen, von dem du sprichst, ist unauslöschlich. Doch du gehst aus freien Stücken nach Göttingen, und die Arbeit, die dort auf dich wartet, ist wichtig. Wenn du dich ihr uneingeschränkt widmen willst, möchte ich annehmen, dass dir das leichter fällt, wenn du dich in erster Linie als Mathematiker betrachtest, in zweiter Linie als ein Besucher eines fremden, aber wohlgeordneten Landes – und als Jude, wenn überhaupt, erst weit dahinter, an dritter Stelle. Außerdem bist du zur Hälfte ein gestandener Angelsachse.«

      »Das ist es ja eben. Es wäre viel schöner, etwas durch und durch zu sein. Entweder das eine oder das andere.«

      »Unsinn!«, sagte Helmut. »Wir sind alle sehr froh, dass du so bist, wie du bist.«

      Am Ende hatte Daniel Jacquiz Helmuts Rat beherzigt und davon profitiert. Er hatte sich beharrlich gesagt, dass er ein Wissenschaftler sei, der an einer ausländischen Universität eine Forschungsarbeit verfolgt, nicht mehr und nicht weniger. Wohl wahr, dies hielt ihn nicht davon ab, die mürrischen und misstrauischen Blicke zur Kenntnis zu nehmen, die ihm häufig in der Öffentlichkeit begegneten, doch gemahnte er sich jedes Mal, dass in einem verarmten und besiegten Land wohl jeder Fremde, der wohlgenährt und gut gekleidet war, auf Ablehnung stoßen musste. Da sich die Deutschen insgesamt schon wieder weitgehend auf dem Weg


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