Als Maria in Dublin die Liebe fand. Emma Donoghue

Als Maria in Dublin die Liebe fand - Emma Donoghue


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sollte, aber das wäre kindisch gewesen. Sie konzentrierte sich auf den alten Kalender, der an einem Nagel neben ihr an der Wand hing. Irland – Königreich des Meeres stand darauf. Auf dem Oktoberbild war ein Taschenkrebs abgebildet, der ihr mit einem Stück Seegras aufgeregt Zeichen zu geben schien.

      »Jetzt ist sie weg.« Das war Jael, die Stimme rau.

      Maria hielt den Atem an.

      »Tatsächlich?«

      »Ihr Flug ging heute Morgen um elf. Vielleicht hat sie ihn verpasst, aber das halte ich eher für unwahrscheinlich.«

      »Gut.« Ruth wieder, zurückhaltend. »Ich hoffe, sie findet dann auch einen Job. In Dublin hatte sie ja kaum eine Chance.«

      Jaels Stimme wurde wieder laut, als sie die Treppe hinunterpolterte. »Bis dann, meine Damen. Bleibt anständig.«

      Durch das nackt wirkende Fenster strömte kalte Luft herein. Maria zog die Ärmel ihres Pullis bis über die Finger und stützte sich auf die Fensterbank. Ihr Atem bildete einen schimmernden Kondenskreis. Sie berührte die kühle Fläche mit dem kleinen Finger und malte ein kleines »m« in die Mitte. Als sie Schritte auf dem Flur hörte, hob sie die Hand, um das Zeichen wegzuwischen, doch dann griff sie stattdessen nach den Vorhängen und zog sie zu. Das Zimmer wirkte jetzt sicherer, aber auch kleiner. »Konnte nichts sehen außer Dächern«, erklärte sie Ruth.

      »Ja, aber dieses Zimmer geht nach Westen – am späten Nachmittag ist es grandios. Komm, ich zeige dir den Rest.«

      Es würde seltsam sein, so viele Treppen hoch zu wohnen, ohne Garten, in den man hinausspazieren konnte. Elegantes wie Schäbiges lebten in dieser Wohnung Seite an Seite. Sie verrenkte den Hals, um den Stuck um die nackte Glühbirne an der Decke zu begutachten.

      »Georgianisch«, erklärte Ruth. »Großartiges Oberlicht über der Eingangstür, hast du es gesehen? Drei Stockwerke dieses Gebäudes sind in den Fünfzigern in Büros umgewandelt worden, aber das Dachgeschoss hatte einen zu ungewöhnlichen Schnitt und kam nur als Wohnung in Frage. Im Winter beschissen zu heizen, aber ich liebe diese hohen Decken. Sie erheben den Geist, findest du nicht?«

      Maria nickte hingerissen. Die höchste Decke, erinnerte sie sich, unter der sie jemals geschlafen hatte, war die in Onkel Malachys übelriechender Scheune, und zwar in jener Nacht, als man sie versehentlich ausgesperrt hatte. Sie hatte keinen Stein werfen wollen, um Mam nicht aufzuwecken, die nach der Operation immer noch schwach gewesen war. »Wer ist denn unter uns?«

      »Es ist unwahrscheinlich, dass du ihnen je begegnest, sie benutzen den Vordereingang. Ein Vermessungsunternehmen, ein Optiker und ein Büro der Pfadfinderinnen. Im Souterrain ist noch etwas, das sich als Haarklinik ausgibt, aber wir haben den Verdacht, dass es sich um ein Bordell handelt. Gibt es in deinem Heimatort auch ein Bordell, Maria?«

      »Nicht dass ich wüsste«, antwortete sie nach einem Moment der Verunsicherung. »Ich habe zwar mein ganzes Leben dort zugebracht, aber ich habe keine Ahnung. Es existieren Gerüchte über den protzigen Wagen vor Mrs. Keoghs Haus, aber ich wette, das ist nur wegen ihrer roten Haare.«

      Ruth lachte verhalten. »Das muss ich Jael erzählen.«

      Das Badezimmer war mit weißen Kacheln ausgestattet, sauber, aber hier und da waren die Kacheln gesprungen. Ruth öffnete den Wäscheschrank und rückte eines der gefalteten Handtücher zurecht. Als sie sich umdrehte, wirkte ihr Gesicht in dem kalten Neonlicht müde.

      »Ich sollte lieber aufrichtig sein, Maria. Es könnte dir hier etwas abgeschieden vorkommen.«

      »Abgeschieden? Inwiefern?«

      Eine unbehagliche Pause. »Kommt drauf an, was du suchst.« Ruth beugte sich vor, um eine leere Shampooflasche aus der Wanne zu fischen. »Ich zum Beispiel bin nicht so furchtbar gesellig; ich mache meine Sachen an der Uni, Diskussionsrunden und so, aber wenn der Tag zu Ende ist, rolle ich mich am liebsten zusammen, lese ein Buch und trinke eine Tasse Tee.«

      »Ich auch.«

      »Tatsächlich?« Ruths Mund wurde weicher. »Du könntest etwas finden, das näher bei der Uni liegt, mit einer jüngeren Truppe, für das gleiche Geld. Andererseits kann das hier auch eine Art Zuhause sein. An guten Tagen.«

      »Ich finde es sehr nett«, sagte Maria.

      »Wirklich? Es hängt alles davon ab, wie … Womit befasst du dich, Maria?«

      »Kunst und Mathematik.«

      Die Hände wedelten ihre Antwort beiseite. »Nein, ich meine, was machst du gerne?«

      Sie saß auf dem Rand der Badewanne und ließ die Frage im Raum stehen. Ihr Blick fiel auf eine Meerjungfrau aus Keramik, in deren Busen alte Zahnbürsten steckten.

      »Ich weiß, es ist total abgeschmackt«, sagte Ruth. »Ich habe alles versucht, aber Jael ist eben ein sturer Skorpion. Angeblich hat es für sie Erinnerungswert, weil ein alter Freund aus Dänemark es ihr geschenkt hat. Ich glaube allerdings, dass sie es nur behält, um mich zu ärgern.«

      Maria zog den blonden Scheitel mit dem Finger nach. »Warum hast du sie denn noch nicht aus Versehen von der Fensterbank gestoßen?«

      »Daran habe ich noch nie gedacht.« Ruths Gesicht zeigte einen gewissen Respekt. »Ich bin nicht sicher, ob ich es fertigbrächte. Was wäre, wenn es einem Passanten auf den Kopf fallen würde? Wenn du hier einziehst, dann schaffe ich es vielleicht.«

      Maria fiel ein, dass sie sich noch beweisen musste. »Zu deiner Frage von vorhin – ich kann gar nicht wirklich sagen, was ich gern mache.«

      »Ach, vergiss es – du magst ja keine Fragen.«

      »Nein, das ist es nicht.« Ihre Finger blieben auf der kühlen Keramikfigur liegen. »Es ist bloß so, dass ich noch nie woanders gewohnt habe als zu Hause, und deshalb weiß ich nicht, wie das ist. Zu Hause zeichne ich und sehe mir Dokumentarfilme an, über Tiere in freier Wildbahn und so. Ich sitze rum und quatsche mit meiner Mam, während sie kocht, und ich passe auf, dass meine Brüder keine zerbrechlichen Gegenstände in die Finger kriegen.«

      »So jemanden braucht man in jedem Haushalt.« Ruths Lächeln verschwand, als sie das Licht ausknipste. »Und das hier ist unser Zimmer.« Sie öffnete die Tür zu einem größeren dunklen Schlafzimmer, in dem etwas Rotes an der Wand hing. »Es liegt nach Norden, deshalb halten wir uns hier nicht viel auf.«

      »Aber ihr habt ja noch nicht einmal richtige Betten!«, rief Maria. »Könntet ihr den Vermieter denn nicht fragen –«

      »Wir mögen diesen Futon, wirklich. Für Jaels Rücken ist er bestens, und er bietet viel Platz.«

      »Es kommt mir ein bisschen unfair vor, dass die, die hier neu einzieht, ein eigenes Zimmer bekommt.«

      »Ach, mach dir darüber keine Sorgen«, sagte Ruth und beugte sich vor, um eine Ecke der Bettdecke glattzuzupfen. »Wir sind mittlerweile aneinander gewöhnt. Ich habe Jael beigebracht, nicht zu schnarchen.«

      Am Ende ihrer Runde durch die Wohnung bemerkte Maria eine Motte, die gegen die Decke flatterte. Sie schaute nach oben und entdeckte eine Dachluke. »Kann man auf das Dach gehen? Der Blick über Dublin ist bestimmt großartig.«

      »Ehrlich gesagt, ich habe es noch nie versucht.«

      »Schade«, sagte Maria und bereute ihren Überschwang.

      »Aber ich werde den Vermieter fragen«, setzte Ruth hinzu und stieß eine störrische Tür vor einem Stapel Decken zu. »Obwohl uns dieser geldgierige Kerl bestimmt gleich einen Fünfer auf die Miete draufschlägt für ›die Benutzung der Dachterrasse‹.« Ihre Finger glitten zum Lichtschalter, und dann standen sie im Dunkeln.

      Maria rührte sich nicht. Kleinanzeigen – damit lockten Psychopathen die Opfer in ihre Wohnungen.

      »Sieh mal«, sagte Ruth.

      »Was denn?«

      »Da oben. Haben deine Augen sich schon an die Dunkelheit gewöhnt?« Ruths Finger deuteten direkt auf die Dachluke. »Das da müssen die Sieben Schwestern sein.«


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