Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin. Группа авторов
Die Hinnahme der antisemitischen Propaganda zeigt freilich auch, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft an judenfeindliche Parolen gewöhnt hatte. Vorurteile gegen Juden waren zu jener Zeit in vielen Ländern, und zwar nicht nur in den traditionell antisemitischen Ländern Osteuropas, sondern auch in den westlichen Demokratien weit verbreitet. Aber dort, wo die Demokratie eine lange Tradition und ein breites soziales Fundament hatte, konnte ihre Abschaffung kein populäres Programm werden. Radikale Judengegner hatten in solchen Gesellschaften wenig Chancen, mit judenfeindlichen Forderungen Politik zu machen und eine antidemokratische Massenbewegung auf die Beine zu bringen. Zudem gab es auch in den Führungsschichten starke liberale Gegengewichte gegen totalitäre und rassistische Kräfte. Das war in Amerika nicht anders als in England und, mit Einschränkungen, in Frankreich. Im Deutschland der späten Weimarer Republik fehlte dieses liberale Korrektiv fast völlig. Das war eine Hypothek des deutschen Obrigkeitsstaates, und dieser Sachverhalt muss auf unser Urteil über das Kaiserreich zurückwirken. Ich stimme mit Hans-Günter Zmarzlik darin überein, dass man diese Epoche der deutschen Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel von 1933 und nicht losgelöst aus dem zeitgenössischen europäischen Zusammenhang betrachten darf.19 Aber die Position der feudal-militärischen Herrschaftsschicht Preußens war ein deutsches Spezifikum, zu dem es in den industriell fortgeschrittenen Staaten des Westens keine Parallele gab und das lange über 1918 hinaus fortwirkte. Das gilt nicht nur für den unmittelbaren Einfluss, den diese Gruppe auf die Staatsgewalt – vor 1918 und dann wieder seit Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten 1925 – ausübte, sondern auch für ihre Rolle als Verbündeter aller antidemokratischen Kräfte von rechts. Kein anderer Teil der deutschen Oberschicht hat so geschlossen und aktiv an der Zerstörung der Weimarer Republik und für die Machtübertragung an Hitler gearbeitet wie die ostelbischen Rittergutsbesitzer.
Aber selbst ein so fortschrittliches Element im politischen System des Kaiserreiches wie das allgemeine Wahlrecht hatte durchaus ambivalente Wirkungen. Es ermöglichte auf der einen Seite den Aufstieg der Sozialdemokratie, auf der anderen trug es erheblich dazu bei, dass es 1918/19 keinen radikalen Bruch mit der Welt des Obrigkeitsstaates gab. Die Erfahrung von einem halben Jahrhundert allgemeinem Wahlrecht ließ den meisten Deutschen, auch der großen Mehrheit der Arbeiter, jede Art von revolutionärer Diktatur als Rückschritt erscheinen. Die Tradition des allgemeinen gleichen Wahlrechts erklärt aber auch, weshalb in Kaiserreich und Republik diejenigen Gegner westlicher Demokratie den größten Erfolg hatten, die sich am besten auf die Mobilisierung der Massen verstanden – Kräfte also wie der Bund der Landwirte, die Deutsche Vaterlandspartei und schließlich, alle Vorbilder weit übertreffend, die Nationalsozialisten, die bewusst demokratische Techniken zur Verfolgung antidemokratischer Zwecke einsetzten. Von daher würde ich die Kontinuität der Zeit vor und nach 1918 stärker betonen als Zmarzlik.
Die konservativen ›Cliquen‹, die Hitler im Januar 1933 zur Kanzlerschaft verhalfen, vertrauten darauf, seine antisemitischen Parolen seien nicht so ernst gemeint, wie sie klangen. Aber für Hitler war, anders als für viele Agitatoren der konservativen Rechten, die Judenfeindschaft niemals Mittel zum Zweck, sondern immer Selbstzweck. Dass er aus seinem Feindbild die tödliche Konsequenz ziehen konnte, das ermöglichten ihm nicht die ›Radau-Antisemiten‹ aus NSDAP und SA, sondern der elitäre ›Orden‹ des Nationalsozialismus, die SS, in deren höheren Rängen es außerordentlich viele Akademiker gab. Das Bildungsbürgertum blieb über den 30. Januar 1933 hinaus die Schicht, aus der sich die Vorhut des deutschen Antisemitismus rekrutierte.
Gewiss, weder das Bildungsbürgertum noch irgendeine andere Schicht der deutschen Gesellschaft hat vor 1933 gewollt, was im Zweiten Weltkrieg mit den Juden geschah. Wer antisemitische Ressentiments hatte, dachte gemeinhin nicht an die umfassende bürgerliche Entrechtung, geschweige denn an die physische Vernichtung der Juden, sondern wäre wohl mit einer sichtbaren Zurückdrängung des jüdischen Einflusses zufrieden gewesen. Aber diese breite Strömung trug eben auch die Minderheit der rabiaten Judenfeinde, während die prinzipiellen Gegner rassischer Diskriminierung gegen den Strom schwammen. So gilt denn auch schon für die Zeit vor 1933, was Kurt Tucholsky im Dezember 1935 – wenige Monate nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze – an Arnold Zweig schrieb: »…ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es verträgt, was es duldet.«20
1 Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung eines Beitrags mit dem gleichen Titel, der zuerst in dem folgenden Band erschienen ist: BERND MARTIN; ERNST SCHULIN: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1981, S. 271-289.
2 MICHAEL BRENNER: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München [Beck] 2000.
3 CORNELIA HECHT: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik. Bonn [Dietz] 2003.
4 DIRK WALTER: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik. Bonn [Dietz] 1999.
5 WOLFGANG BENZ; ARNOLD PAUCKER; PETER PULZER (Hrsg.): Jüdisches Leben in der Weimarer Republik (Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Bd. 57). Tübingen [Mohr] 1998. WOLFGANG BENZ (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Berlin [De Gruyter] 2009.
6 Vgl. HAROLD D. LASSWELL: The Structure and Function of Communicationin Society. In: LYMAN BRYSON (Hrsg.): The Communication of Ideas: A Series of Addresses. New York [Harper] 1948, S. 37-51. WINFRIED SCHULZ: Kommunikationsprozess. In: ELISABETH NOELLE-NEUMANN; WINFRIED SCHULZ; JÜRGEN WILKE (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Frankfurt/M. [Fischer] 2002, S. 153-182, dort S. 157.
7 HEINRICH AUGUST WINKLER: Geschichte des Westens. 4 Bde. München [Beck] 2011-2015.
8 HEINRICH AUGUST WINKLER: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung. 2 Bde. München [Beck] 2000, Neuauflage 2020.
9 VICTOR KLEMPERER: Leben sammeln, nicht fragen, wozu und warum? Berlin [Aufbau] 2000.
10 GABRIELE TERGIT: Effingers. Hamburg [Hammerich & Lesser] 1951, Neuauflage München [Beck] 2020.
11 Zit. n. OTTOKAR STAUF VON DER MARCH: Die Juden im Urteil der Zeiten. Eine Sammlungjüdischer und nichtjüdischer Aussprüche. München [Deutscher Volksverlag] 1921, S. 178-179.
12 WERNER JOCHMANN: Die Ausbreitung des Antisemitismus. In: WERNER E. MOSSE; ARNOLD PAUCKER (Hrsg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband. Tübingen [Mohr] 1971, S. 439-440.
13 Antisemitismus. In: Der Große Herder. 4. Aufl., Bd. 1. Freiburg [Herder] 1926, S. 725.
14 HANS ROSENBERG: Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse. In: HANS ROSENBERG: Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1978, S. 83-101.
15 Nordwestdeutsche Handwerks-Zeitung vom 27. März und 17. April 1924, zit. n. HEINRICH AUGUST WINKLER: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1972, S. 160.
16 MICHAEL H. KATER: Studentenschaft und Rechtsradikalismus 1918-1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik. Hamburg [Hoffmann und Campe] 1975, S. 145.
17 Ebenda, S. 148.
18 EVA G. REICHMANN: Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe. Frankfurt/M. [Europäische Verlagsanstalt] 1969, S. 277.
19 Vgl. HANS-GÜNTER ZMARZLIK: Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 1871-1918. In: BERND MARTIN; ERNST SCHULIN (Hrsg.): Die Juden als Minderheit in der Geschichte. München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1981, S. 249-270, dort S. 252-253.
20 KURT TUCHOLSKY: Ausgewählte Briefe 1913-1935. Reinbek b. Hamburg [Rowohlt] 1962, S. 336.
THOMAS PETERSEN
Wie antisemitisch ist Deutschland?
Ein