Annie Dunne. Sebastian Barry
Er lächelt und steht ruhig und bereitwillig da: ein kleiner Wachposten. Ich fürchte, in meinem tiefsten Innern glaube ich, dass ein Junge so viel wert ist wie zwei Mädchen. Ein Vorurteil, das ich einfach nicht loswerden kann.
Ihre Körpergröße zu messen ist wie Kälber zu untersuchen. Als hätten wir, solange sie nicht in unserer Obhut waren, um ihr Wachstum gebangt, uns gefragt, ob sie auch ordentlich gefüttert und getränkt würden. Meine Hände zittern, als ich sie auf die schmalen Schultern des Jungen lege. Ein Zittern in der Magengrube, für einen Moment wird mir fast übel. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich zu ihm hinabbeugen muss. Klein ist er und makellos, sein Gesicht so glatt wie der Wasserspiegel eines Brunnens. Sein Lächeln so bezaubernd, dass man es zeichnen möchte, und tatsächlich bin ich mir sicher, dass sein Großvater Matt ihn, um sich vom Unterrichten jener undankbaren Kinder in Ringsend zu erholen, oft gezeichnet hat. Er ist so begabt darin, still zu sitzen. Still wie eine Landschaft.
Es ist wahr, ich verstehe nicht wirklich, was ein Mädchen ist, auch wenn ich vor sehr langer Zeit selber eins war. Wer mich ansieht, wird bestimmt keine Spur davon finden, keinen fortbestehenden Teil von mir, der ihm davon erzählen würde, wie ich einst über die Feldwege von Kelsha, Kiltegan und Feddin gerannt bin, leicht wie ein Büschel Stroh.
»Bin ich sehr gewachsen?«, fragt der Junge fast ein bisschen traurig, so als hätte er meine Gedanken erraten.
»Nein«, erwidere ich lachend. »Wahrlich nicht. Aber einen kleinen Sprung hast du schon gemacht.«
»Wie ich meinem Vater jemals bis zum Scheitel reichen soll, weiß ich nicht«, sagt er.
»Hast du denn die Absicht?«
»Daddy sagt, eines Tages werde ich so groß sein wie er. Aber größer soll ich nicht werden. Er sagt, wenn ich größer bin als er, muss ich von zu Hause ausziehen.«
»Vielleicht wirst du ja gar nicht größer.«
»O doch, werde ich bestimmt«, sagt er, jeder seiner neunzig Zentimeter ganz traurig.
»Ich schätze, deine Schwester wird es vor dir schaffen«, sage ich, und das Mädchen lächelt triumphierend.
»Das würde ihm nicht gefallen«, sagt sie.
»Wem?«
»Ihm«, sagt sie und meint ihren Bruder, denke ich.
Der Junge starrt seine mächtige Schwester an. Nackte Angst in seinen Augen. Diese Angst verstehe ich nicht.
»Dann iss schön deinen Teller leer«, rate ich ihm.
»Jetzt?«, fragt er zweifelnd.
»Nein, jetzt gehst du schlafen. Im Wald ist die Eule erwacht, Zeit für uns Sterbliche, zu Bett zu gehen.«
Die ganze Welt ist still. Die Buchen entlang der Mauer geben Ruhe heut Nacht. Den Wäldern auf dem Kamm muss wohl Schweigen geboten worden sein. Keine knarzenden Äste, die die Kinder stören könnten, die schließlich Stadtkinder sind und Zeit brauchen, um sich an alles zu gewöhnen, nicht nur an die Butter. Gesalzen, ungesalzen, das ist der Unterschied, gesalzenes und ungesalzenes Leben. Sie können sich nicht sofort zu Hause fühlen, das ist unmöglich, ganz gleich, wie sehr ich sie vergöttere.
Ich danke Gott für die windstille Nacht.
Die Kinder sind in ihrem Schlafzimmer und schlafen so fest wie Kiesel in einem Fluss. Ich denke an den kleinen Jungen in seinem Nest aus Laken und Decken. Die Laken steif wie weißer Karton, so gestärkt sind sie.
Ich war so darauf bedacht, ihnen angenehmes, anständiges Bettzeug zu bieten, dass ich’s wohl übertrieben habe mit der Stärke. Macht nichts. Die alte braune Wärmflasche sorgt dafür, dass die Laken ein bisschen weicher werden. Ich weiß, er wird seine kleinen Füße auf sie legen, auf freundschaftliche Art.
Gegenständen gegenüber verhält er sich seltsam, er schreibt ihnen Charaktereigenschaften zu. Darum ist die Wärmflasche seine Freundin. Der alte blaue Bettüberwurf mit den aufgestickten ländlichen Szenen ist sein Freund. Alles im Haus hat er mit einer Art gestillter Sehnsucht begrüßt. Ich frage mich, wovon er wohl träumt.
Vielleicht sieht er im Schlaf die lange, gewundene Straße nach Kelsha vor sich, die glitzernden Hecken, die unbekannten Farmhäuser. Was im Kopf eines kleinen Jungen vor sich gehen mag?
Der Kessel hängt zwar noch an seinem schmutzigen Haken – gegen den fettigen Kochdunst kommen selbst wir nicht an –, aber ich habe ihn vom Feuer weggeschwenkt. Ich darf mich nicht dazu hinreißen lassen, so spät am Abend noch Tee zu trinken, denn dann liege ich steif vor Schlaflosigkeit im Bett, und das kann ich im Augenblick wahrhaftig nicht gebrauchen. Ich werde auf meinen Schlaf angewiesen sein – zu meiner Erholung, dieser freundlichen Schwester des Schlafes.
Ist der Tag voller Mühsal, wird er uns lang; ist er voll schöner Momente, erscheint er uns kurz, und doch ist das Leben an sich nicht mehr als ein Wimpernschlag. Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, ländliche Gedanken vermutlich, alte Redensarten meines Vaters.
Wie ich liebte mein Vater das stille Spektakel des Kaminfeuers, zumindest bis ihn die große Unrast ergriff. Danach war ihm nichts mehr recht.
Wie ich hier so in der Düsternis des verglimmenden Torffeuers sitze, scheint alles weit entfernt, scheint alles auf Abstand bedacht, wie die Rehe, die sich im Morgendämmer vorsichtig aus dem Wald wagen, um das zarte Gras zu äsen. Ich denke an nichts Besonderes, lasse, wie man es an einem Feuer tut, meinen müßigen Gedanken freien Lauf. Und so fällt mir zum Beispiel ohne jeden Grund ein, dass Rehe an jedem Tag des Jahres Sonntagsstaat tragen.
Jack Furlong, der Kaninchenmann, stellt den Kaninchen nach, aber ich weiß, die Rehe würde er nicht jagen. Oben in den Hügeln, wo keine Bäume mehr stehen, gibt es Tausende Kaninchen. Er ist ein zartfühlender Mann, aber es ist nun mal seine Aufgabe, sie zu töten.
Billy Kerr würde die Rehe nicht in Frieden lassen, wenn er sich einen Gewinn verspräche, denn er ist ein Mann ohne Qualitäten. Wahrscheinlich gibt es überall, wo Menschen sind, einen Billy Kerr oder jemanden wie ihn. Sonst wäre ja für immer alles gut.
Aber kein Leben ist gefeit gegen die Risse in den Dingen. Wie ich so ganz allein dasitze, zwischen den schlafenden Kindern und der schlafenden Sarah, die sich in unserem Zimmer hinter mir die Bettdecke über das Gesicht gezogen hat, denke ich nicht bewusst über Billy Kerr nach. Mein Geist geht auf Wanderschaft, es gibt ein gewisses Maß an Behaglichkeit. Die Kinder schlafen lautlos, die Torfasche im Kamin fällt mit dem vertrauten mäusekleinen Geräusch in sich zusammen. Über mir kann ich die winzigen Tanzschritte der wirklichen Mäuse hören, die mit seltsamer Regelmäßigkeit auf dem Dachboden hin und her trippeln, immer von einem Ende zum andern und dann so zielstrebig zurück, als wollten sie einen großen Stern auf die staubigen Dielen zeichnen.
Nach einer Weile werde ich von einem kleinen wimmernden Laut gestört, der aus dem Hühnerstall zu kommen scheint. Der Hühnerstall ist an die südliche Giebelwand des Hauses gebaut oder doch fast, und so sind wir und die Hühner Nachbarn.
Aber dann glaube ich doch nicht, dass es die Hennen sind. Hennen geben empörte Geräusche von sich, wenn die Füchse aus den Wäldern kommen. Das hier ist nicht das Geräusch empörter Hennen, sondern etwas Weicheres, Dunkleres. Als ich begreife, dass es aus dem Zimmer der Kinder kommt, springe ich aus meinem Sessel.
Ich stürze zu ihrer Tür, hebe, so sanft jahrelange Übung es mir ermöglicht, den metallenen Riegel und spähe in das schimmernde Dunkel. Das bisschen Licht, das mir von draußen ins Zimmer folgt, betastet die Ecken und Kanten der Gegenstände, das matte Messing der Bettgestelle und dergleichen. Ich frage mich, ob der Junge wach geworden ist und die fremde Umgebung ihn ängstigt. Aber nein, es ist nicht er, sondern der zarte Schwan von einem Mädchen in ihrem weißen Nachthemd. Ihre Decken liegen zurückgeworfen im eisigen Bad des verirrten Lichts, die kleinen Beine sind angewinkelt, den Kopf mit dem dunklen Haar wirft sie hin und her, und aus ihrem roten Mund dringt ein merkwürdiges Geräusch, das sich nach echter Qual anhört.
Natürlich schleiche ich mich zu ihr. Ich weiß, dass man Schlafwandler nicht aufwecken sollte, aber sie wandelt ja nicht. Dennoch sieht sie aus, als sei sie