Annie Dunne. Sebastian Barry

Annie Dunne - Sebastian  Barry


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gerichtet.

      Vielleicht sollte ich Sarah wecken, denn bei all ihrer Schweigsamkeit weiß Sarah oft die Lösung für Dinge, die mir dunkel und verworren erscheinen. Die Glieder des kleinen Mädchens wirken recht anmutig in diesem trüben Licht, sie erinnern mich an etwas, vielleicht an meine eigene Mädchenzeit, vielleicht an meinen eigenen weichen, schmächtigen Körper, bevor ich mit der Kinderlähmung zu kämpfen hatte. Ich weiß es nicht.

      Das kleine Mädchen schreit auf. Ich riskiere es, eine Hand auf ihre Stirn zu legen, und als ich mich über sie beuge, verändern sich ihre Augen sofort. Sie stößt einen klaren dünnen Kreischlaut aus, wie ich ihn noch nie gehört habe.

      »Was ist los, was ist los?«, frage ich.

      »Der Tiger ist im Zimmer«, sagt sie.

      »In Wicklow gibt es keine Tiger«, sage ich, aber, der Himmel steh mir bei, ich sehe mich trotzdem um, voller Angst, einen zu erblicken. »Gott bewahre, Kind, da ist nichts. Ssch, ssch«, sage ich, setze mich auf den Rand des schmalen Betts und streiche ihr über den Kopf. Ihr Haar ist so weich wie frisches Gras. »Brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier in Kelsha. Liegst wohlbehalten in deinem Bett. Ich bin doch bei dir und Sarah auch.«

      Das kleine Mädchen fängt an zu weinen. Es ist ein schwaches, fernes, in sich gekehrtes Weinen, schwermütig und ergreifend. Plötzlich schäme ich mich, weil ich vorhin geringer von ihr gedacht habe als von ihrem Bruder. Mein Herz fliegt ihr zu, wessen Herz würde das nicht?

      »Ach, Tante Anne«, sagt sie.

      »Ach, mein Liebes«, sage ich.

      Ich nehme sie in die Arme. Sie ist nur Haut und zarte Knöchelchen. Sich vorzustellen, dass ein Mensch eine Seele ist, umschlossen nur von diesem Käfig aus Knochen! Was für eine Einrichtung, wie soll uns das schützen?

      »Ich habe große Angst vor dem Tiger«, sagt sie. »Bin ich froh, dass er nicht hier ist.«

      »Das will ich meinen«, sage ich.

      Sie schaut mich an. Schiebt mich ein wenig von sich weg, wie um mich besser sehen zu können. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit des Zimmers gewöhnt. In ihrem Blick liegt eine ganze Welt aus Worten; fast kann ich sehen, wie ihr Gehirn damit ringt. Aber es ist zu viel für sie. Vielleicht fehlen ihr die Worte für das, was sie sagen will. Stattdessen sagt sie etwas anderes, etwas Einfaches, das alle Kinder dieser Welt irgendwann einmal gesagt haben, zu ihren Müttern oder zu wem auch immer. Aber zu mir hat es noch niemand gesagt.

      »Ich hab dich lieb, Tante Anne«, sagt sie.

      In meiner Brust lächelt der Wolf des Stolzes.

      »Oh, da bin ich sicher«, sage ich, zufrieden wie noch nie, und decke sie wieder ordentlich zu. Und fange an zu lachen.

      Und auch sie lacht.

      »Schlaf jetzt«, sage ich. »Ich bleibe so lange hier sitzen, bis du eingeschlafen bist. Versprochen.«

      Und genau wie ich es zu dem Jungen gesagt hatte, stößt die Schleiereule, die ja gar keinen Schleier trägt und die in der höchsten Kiefer am Rande des Waldes lebt, einen eindringlichen, erinnerungsschweren Schrei aus.

       Zweites Kapitel

      Bei Tageslicht öffnet und weitet sich die Farm, die furchterregenden Schatten fliehen aus den feuchten Bäumen, das Pony in seiner Box erwacht, die Kälbchen im Kälberstall rappeln sich hoch. Ich stehe, den Emaillekrug in der Hand, an der Regentonne im Hof, besänftigt von dem unerwarteten Schleier aus Sonnenlicht, der über allem liegt. Sie strahlt schon Wärme aus, die Maisonne. Selbst die Ritzen zwischen den Pflastersteinen sind mit Sonne ausgefüllt, und das Wasser in der Tonne bildet einen veränderlichen Spiegel.

      Ich spüre, wie die Wärme in die Fasern meiner Bluse dringt, eine leichte Hitze für eine Frau von leichter Hitze. Meine Knochen und ihre müden Sehnen und Bänder sind dankbar. Ich hebe das Gesicht zum Licht, einmal mehr erstaunt, welche Freuden einem auf dieser Erde vergönnt sind.

      Die ganze Nacht lag ich neben der schlafenden Sarah, bin selbst immer mal wieder eingeschlafen, habe, um sie nicht zu wecken, versucht, mich nicht umzudrehen und keinen Laut von mir zu geben, und war trotz der Ankunft der Kinder recht bedrückt. Wieder fürchtete ich um ihre Sicherheit, fürchtete, wir seien nicht in der Lage, auf sie aufzupassen, und fast verfluchte ich ihren Vater, dass er sie zurückgelassen hatte. Nachtgedanken, verscheucht von einer jugendlichen Sonne.

      Ich tauche den Krug durch die Schicht brauner Blätter – sie sind aus der Dachrinne gefallen, die Billy Kerr hätte säubern sollen –, und das Regenwasser strömt hinein. Mit der richtigen Handbewegung kann man den Krug jetzt so aus dem Wasser heben, dass er keinen Unrat enthält, ein kleiner morgendlicher Triumph. Sarah kommt mit der großen Schüssel voller Körner aus der Küche und schließt die Halbtür hinter sich. Sie nimmt eine Faustvoll und ruft nach den Hennen im Stall, die sich noch nicht geregt haben. Vielleicht tut sie das, um sie in Aufregung zu versetzen.

      »Putt-putt-putt, putt-putt-putt.«

      »Sarah, Liebes, du hast dich ja noch gar nicht gewaschen.«

      »Mach ich gleich, Annie.«

      »Du hast die Ärmel deiner Bluse zugeknöpft und dir nicht mal die Handgelenke gewaschen.«

      »Genauso wenig wie du.«

      »Aber ich hab die Ärmel vorsichtshalber hochgekrempelt.«

      »Die Hühner haben Hunger.«

      Sie öffnet den hölzernen Riegel und zieht mühsam die alte Tür zum Hühnerstall auf. Noch so etwas, das repariert werden muss, denn die Tür schleift über den Boden, und von unten frisst sich die Nässe hinein. Billy Kerr mal wieder. Aber eigentlich ist Billy Kerr nicht bei uns angestellt, sondern bei den Dunnes in Feddin, meinen drei Cousinen, deren Hof weiter unten im Tal liegt. Wir hätten gern jemanden, der die ganze Zeit für uns arbeitet, aber den können wir uns nicht leisten. So unzuverlässig, wie er ist, würde ich Billy Kerr ohnehin nicht den üblichen Lohn zahlen.

      Verwirrt und aufgebracht stürzt der Hahn aus dem Stall und marschiert im Hof auf und ab, fast rennt er. Trotzdem sieht der arme Kerl wie ein Mädchen in einem rostbraunen Tutu aus, wie eine Ballerina. Und nun folgt ihm langsam die Damenwelt, noch ein bisschen angeschlagen von der Dunkelheit des Stalls, nicht ganz so sicher, nicht ganz so eifrig. Man könnte meinen, sie lieben Sarah, so wie sie sich, kaum haben sie sie erblickt, um sie scharen. Aus dem Handgelenk, dem Handgelenk, das sie nicht gewaschen hat, wirft sie ihnen die Körner hin, und als diese auf die Steine prallen und hochspringen wie Hagelkörner, picken die Hennen sie mit den Schnäbeln auf. Ihren glasigen Augen nach zu schließen haben sie die ganze Zeit Sorge, nicht genug zu bekommen, um ihre Mägen zu füllen.

      »Zurück, zurück, zurück!«, ruft Sarah, was sie in letzter Zeit immer tut, weil ihre Augen nachlassen und sie Angst hat, auf die Hühner zu treten.

      »Warum tust du das?«, hatte ich sie wenige Wochen zuvor gefragt.

      »Weil ich sie nicht sehen kann«, gab sie zur Antwort.

      »Du musst nach Dublin zum Augenarzt«, sagte ich.

      »Den könnte ich auch nicht sehen«, erwiderte sie lachend.

      »Wir müssen einen Termin machen«, sagte ich. »Das wäre das Klügste.«

      »Im Augenblick muss ich so zurechtkommen«, sagte sie. »Ein Arzt ist eine kostspielige Angelegenheit.«

      Und seither scheint sie tatsächlich einigermaßen zurechtzukommen. Sie entwickelt Strategien, andere Sehweisen vielleicht. Ich verstehe sie nicht immer. Nachts zieht sie sich die Decke übers Gesicht, und so schläft sie dann. Wenn ich nachts nicht schlafen kann und wach im Bett liege, weil ich gegen jede Vernunft spät noch Tee getrunken habe, höre ich sie unter der Decke murren und schimpfen. Manchmal wirft sie sich so abrupt von einer Seite auf die andere, als wäre sie ein Soldat im Gefecht.

      Welche Schwierigkeiten sie tagsüber auch haben mag: wenn sie schläft, scheint sie ziemlich


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