Im wilden Balkan. David Urquhart

Im wilden Balkan - David Urquhart


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des Volkes, nicht weniger schätzbar in ihren Grundsätzen als in ihrem Wirken, die ein Feld der Auszeichnung und des Ehrgeizes denen öffnet, die sich die Achtung ihrer Mitbürger zu verschaffen wissen. Dann wird er auf die Rechtspflege blicken und Richter bemerken, die über jeden Verdacht erhaben sind, Geschworene ohne Menschenfurcht, das Gesetz über dem Reichtum und der Macht, den Bürger in seinen Rechten gegen seine Regierung geschützt. Dann wendet er sich zu den praktischen Mitteln der Stärke und des Fortschritts: ein ungeheures Einkommen zur Verfügung des Staates; ein mit den höchsten Anstrebungen nach Nationalehre erfülltes Heer, vollkommen in seiner Manneszucht und Achtung gebietend durch seine Zahl; eine Seemacht, die erste an Charakter und Macht; innere Mittel zur Kommunikation, der größten Stütze des nationalen Gedeihens, gesichert durch ein unvergleichliches System von Wegen, Kanälen und Eisenbahnen; ein Banksystem, welches das Kapital mit der größten Leichtigkeit in Umlauf setzt; überall die Presse und die Post in beständiger Tätigkeit, wodurch die Anhäufung der Kenntnis und Belehrung ebenso leicht und ebenso vollständig wird wie der Umlauf materieller Gegenstände und des Kapitals. Dies alles wird ihm als die Grundlage von Englands Größe auffallen, und da er fühlt, England müsste von seinem Rang unter den Völkern herabsteigen, würde es dieser Dinge beraubt, so muss er sie als notwendige Bedingungen des Wohlseins oder des Bestehens eines jeden anderen Staates erachten.

      Er wird aber nun feststellen, dass sie in der Türkei nicht vorhanden sind. Er wird, soweit seine Mittel zum Urteilen ausreichen, die Macht des Sultans unbeschränkt finden; er wird keine dauernde Aristokratie, keine das Volk vertretende Kammer, keine Juristen, keine Geschworenen sehen; ein spärliches dem Staat zukommendes Einkommen und sehr große Missbräuche bei dessen Erhebung; kein stehendes Heer, oder doch höchstens nur ein unbedeutendes und erst jüngst ausgehobenes, mangelhaft in seiner Zucht und in seinem Geist; er wird die größte Schwierigkeit in den Mitteln des Binnentransportes bemerken; kein etabliertes Bankensystem zum Umlauf des Kapitals, keine Post, keine Presse, keine wohltätige Fürsorge für die Armen, und demgemäß wird er die Türkei zu einer Nation im Zustand des Verfalls und ihrer Auflösung entgegengehend erklären.

      Sollten aber Umstände ihn zu näherer Bekanntschaft mit dem materiellen Befinden dieses Volkes führen, so wird er bemerken, dass manche, und zwar die wesentlichsten Gegenstände, auf welche unsere eigenen Einrichtungen hinzielen, auch dort in einem beachtenswerten Maß ins Leben getreten sind, und oft in viel größerer Ausdehnung als bei uns zu Hause. Er wird einen Überfluss der Notwendigkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens im Bereich der ganzen Masse der Bevölkerung erblicken. Auffallen wird ihm das Fehlen der Armut, der Prozesssucht und des Verbrechens, und vor allem wird er das Fehlen des Parteigeistes und der politischen Feindseligkeit bemerken, und die allgemeine Gewohnheit, einer Regierung zu gehorchen, die in seinen Augen keines jener Kennzeichen besitzt, die eine Regierung achtungswürdig machen, und die obendrein nicht einmal über die Mittel verfügt, ihrem Willen Kraft zu verleihen. Er wird ungeachtet des Mangels aller Strukturen zur Erleichterung des Transportes, einer volksvertretenden Kammer, um über die Handelsinteressen zu wachen, und von Gesetzen zum Schutz der einheimischen Industrie dennoch eine Leichtigkeit in allen Handelsgeschäften bemerken, die demjenigen unbegreiflich ist, der das nationale Gedeihen an gewisse Regierungsformen knüpft, an Spezial-Departments und Ausschüsse und an tausend Bögen voll von Verordnungen. Die Schlussfolgerung ist, dass in der Türkei andere Elemente des politischen und wirtschaftlichen Erfolgs bestehen müssen als diejenigen, worauf Englands Erfolg beruht, und folglich, dass Englands oder irgendeines anderen Landes oder Systems Erfahrung nicht ausreicht, die Gesetze zu bestimmen, welche die menschliche Gesellschaft beherrschen. Da er aber nichts gesehen hat, was die Wichtigkeit der oben angedeuteten Grundlagen von Englands Größe verringern könnte, so muss er folgern, dass mit Vorteilen, welche die Türkei nicht besitzt, England an Übeln leidet, welche die Türkei nicht kennt. Er wird deshalb auf den Punkt zurückgeführt werden, von dem er hätte ausgehen sollen: dass nämlich vieles zu lernen ist; dass die Dogmen der Parteien, dass die Meinungen der Politiker noch nicht unfehlbar sind, und dass der menschliche Geist selbst für den Staatsmann ein wichtigeres Studium ist als Regierungsformen.

      1 Wäschestärke [Red.].

      1 Anspielung auf Horaz, Carmina I 5 – und damit auf ein bekanntes Gedicht des englischen Dramatikers und Lyrikers Ben Jonson (1572–1637) [Red.].

      1 Das kommt von der türkischen Gewohnheit her, die Dienstboten durch gelegentliche Geschenke, aber nicht durch festen Lohn zu bezahlen.

      1 Whigs und Tories waren vom Ende 17. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als Land- bzw. Hofpartei die beiden wichtigsten, politisch meinungsbildenden Gruppierungen in England. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand außerdem die Partei der Radikalen, der eher die Mittelschicht angehörte und die Interessen der Handwerker und Arbeiter vertrat. Im Jahr 1859 gründeten Whigs und Radikale die Liberale Partei [Red.].

      2 Der Chemiker und Physiker Michael Faraday (1791–1867), der aus Hannover stammende Astronom Friedrich Wilhelm Herschel (1738–1822), der Mathematiker, Mechaniker und Nationalökonom Charles Babbage (1791–1871), der Geologe William Buckland (1784–1856) galten als die führenden Fachvertreter ihrer Zeit [Red.].

      1 Der Tory Sir Robert Peel (1788–1850) gehört zu Urquharts Lebzeiten zu den einflussreichsten Politikern bzw. politischen Reformern Englands [Red.].

      2 Lord Charles Grey (1764–1845), der eher liberale Grundsätze vertrat und sich beispielsweise für die Abschaffung des Sklavenhandels einsetzte, war einer der bedeutenden politischen Gegner Peels [Red.].

      3 John Arthur Roebuck (1802–1879) war ein prominenter Vertreter des dritten politischen Flügels im englischen Unterhaus, nämlich der Radikalen [Red.].

      4 Der Geologe James Hutton (1726–1797) hatte ein System der Geochronologie entwickelt, das die Entstehung mineralischer Stoffe auf vulkanische Vorgänge zurückführte. Eine andere Theorie verfolgte der Mineraloge Abraham Gottlob Werner (1749–1817), der die Entstehung von Gesteinen unter dem Einfluss des Wassers erklärte. In der Folgezeit entstand ein viel beachteter Streit beider Schulen, der mit den Schlagworten des Plutonismus bzw. des Neptunismus ausgetragen wurde [Red.].

      FÜNFTES KAPITEL

      AUSFLUG VON SALONIKA ZUR VERFOLGUNG VON RÄUBERN

      Da ich voraussetze, dass der Leser genug von Klephten und Armatolis gesehen habe1, so will ich ihn nicht durch die piërischen Gebirge2 führen, sondern ihn bitten, nach dem Schluss des vorigen Kapitels über sechs Wochen hinwegzuspringen und sich zu vorzustellen, dass er an einem hellen sonnigen Septembernachmittag, der schon etwas von der Hitze, aber nichts von dem Glanz der Sonnenstrahlen im Hochsommer verloren hatte, im Schatten einer Platanengruppe sitzt, die die Gräber vor dem östlichen Tor von Salonika überdeckt. Während der Leser dort unter dem schönen Laubdach die Erquickung einer Pfeife oder einen Nargileh3 und die Kühlung des sich eben aus den Fluten erhebenden Seewindes genießt, wird er aus den Toren der alten Mauern einen bunten und fröhlichen Haufen von Reisenden kommen sehen, die längs der Bucht fortreiten, um ihre Schritte in die kaum besuchten Gegenden von Südmakedonien zu lenken.

      Der Vorderste in dieser Gruppe ist ein Surridschi oder Fährtensucher, dessen Anzug aus einem ganzen Haufen schmutziger Lumpen zusammengesetzt scheint, die aber nicht ohne ein Ansehen von Lebhaftigkeit und Anmut seiner Person angepasst sind, als ob ein Künstler hätte zeigen wollen, wie viel Malerisches sich aus Flicken machen lasse. Ein schmutzig aussehendes Handtuch ist rund um eine Kappe gewunden, die einmal rot gewesen ist, und die ehemalige Stickerei der Fransen baumelt um seinen Nacken und hebt die Hindu-Züge, die sie beschattet, denn der Surridschi ist ein Zigeuner. Eine enge, ärmellose, dem Körper angepasste Jacke und eine Oberjacke, deren Ärmel von den Schultern herabfallen, geben den genauen Umriss seiner Brust; die weiten Ärmel seines Hemdes, aufgeschürzt über den Schultern, lassen seine derben, bronzefarbigen Arme und Nacken entblößt; ein anderes Handtuch ist eng um seine Hüften gegürtet, darunter bauscht ein Paar weiter Beinkleider, die durch kurze Steigbügel an dem hohen Sattel zusammengehalten werden und in den Zierklappen enden, die über seine Reisestiefel herabhängen. Doch während die Zierde geblieben, ist das Nützliche verschwunden, und die nackten Zehen drängen sich unten durch die Stiefel und die Schaufel-Steigbügel.


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