Sei Sonne, sonst bleibst du Fledermaus. Maulana Dschelaluddin Rumi

Sei Sonne, sonst bleibst du Fledermaus - Maulana Dschelaluddin Rumi


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Bratenkloß, sein Auge als Wolke, seine Träne als Trugbild, seinen Leib als Bruchwerk. Bisweilen versank er derart tiefgründelnd in verzückter Versunkenheit, daß im Winter sein tränennasser Bart am Boden festfror und er kaum gewahr ward, wie ihn dann seine Schüler loseisten. Besuche in Mühlen berauschten ihn; er hörte Mühlsteine »sobbuh! quddus!« (O Allerherrlichster! O Allerheiligster!) rufen und drehte sich mit. Vor Byzantinern, die sich dreimal vor ihm verneigten, verneigte er sich dreiunddreißigmal.

      Als Meisterschüler Husamuddin ihn bat, die Überfülle seiner Gedanken und Geschichten in einem Mathnawi (Lehr-Epos) niederzulegen, wie vormals Rumis Lieblingsdichter Fariduddin ’Attar oder Saadi, der König mit der süßen Zunge, zog der Maulana die ersten fertigen achtzehn Doppelverse aus seinem Turban hervor: das Sehnsuchtslied der Rohrflöte. Aber als Husamuddin ihn bat, die Schamsuddingeschichte genauer zu erzählen, zeigte Rumi sich zugeknöpft und erwähnte den verschollenen Derwisch in den 24.660 Doppelversen, in sechs Büchern, die er siebzehn Jahre lang diktierte, namentlich kaum.

      Im Jahr 1256 lagen Rumis mitgeschriebene Tischgespräche fertig vor, »Fihi ma fihi« (»Was drin ist, ist drin«).

      Gleichwie Madschnun statt um Allah um Laila und Rumi um Schamsuddin kreiste, so dachte Akmaluddin Tahib, Rumis Leibarzt, immer seltener ans Jenseits, sondern kreiste zunehmend immer ausschließlicher um seinen Lieblingspatienten Rumi.

      Neben dem nicht ganz zu Ende diktierten Mathnawi lag Rumi dann sterbend darnieder, hörte sieben Tage und Nächte lang ein Erdbeben rumpeln. Es schüttelte alle Knochen durch, zermalmte etliche Häuser und Gartenmauern. Rumi, bettlägerig zwischen schreienden Helfern, blieb ruhig und wandte sich an seine Angehörigen: »Die arme Erde ist hungrig. Bald wird sie einen fetten Brocken bekommen und Ruhe geben.« Augenzwinkern? Galgenhumor? Mimikry? Atavismus? Konnten spätere Zeiten aus dem fetten Brocken schlußfolgern, daß Rumi Pykniker gewesen ist? (Wie man aus der Hamlet-Zeile vom »kurzen Atem« schloß, Hamlet sei dick gewesen.) Andererseits wurde er als gelbgesichtig geschildert. So oder so: Lebenslang sang Rumi monotheistisch von Seele und Allah, um im letzten Moment dann doch archaisch von Körper und Mutter Erde zu reden?

      Rumis Katze starb ihrem Herrchen binnen einer Woche nach und wurde dicht bei ihm beigesetzt.

       Im Ozean der Parabelströme

       Was steht im Mathnawi?

      Das indische Sprichwort »Alles, was es gibt, steht im Mahhabharata. Alles, was nicht im Mahhabharata steht, gibt es nicht« könnte auch auf Rumis Mathnawi zutreffen. Alle können untertauchen im Fluß ohne Ufer, im Meer der Seele, in seines Liedes Riesenteppich, im bodenlosen Wildwuchs, im Kompendium und Sammelbecken orientalischer Parabeln, von Legenden, Schnurren, Schwänken, Witzen, Geschichten, Einsichten, wundersam verschachtelt und verschlungen, in der Gedankenflora, im prismatisch sich drehenden, irisierenden Formulierungsdschungel mit aufgehenden Knoten, Ebenenwechseln (sprach Rumi von plätscherndem Wasser, forderte er seine Zuhörer auf, einzutauchen in die Bedeutung dieser Worte, statt ins Plätschern), ständigem Rauf- und Runterzooming ineinandergespiegelter Dinge, Holzkisten, die zwischen Hausrat und dem Käfig des Körpers oszillieren, von der Mücke zum Elefanten, vom Weltbrandstifter Pharao zum Geistentzünder Musa (Moses), von der Fledermaus zur Sonne, vom Stein bis zu Allah, und zurück zu Elefant und Stein, ein Geschlingere zwischen zwei, drei, vier Ebenen, nimmermüdem Dualismus, der in Facetten und Nuancen schillert und zerfasert, Wahnwitz und Wahrheit, die ständig ineinander umschlagen. Engelsfedern band Rumi an Eselsschwänze, auf daß der Esel aufglänze und vielleicht zum Engel werde. Allerschönste Aufschwünge und Hinwärtsbewegungen, vom Schlamm, aus dem keiner einen Fuß ziehen kann, bis zur Himmelsdurchquerung unter Beiseitelassung dann sogar des Himmels! Vorformen von »Sechse kommen durch die ganze Welt« blühten. Einem Jüngling, der durch sechshundert Schleier eine Antwort Gottes gehört zu haben glaubte, platzte vor Aufregung fast die Gallenblase. Spötter bellten als Hunde den Mond an. Gottesbeweise schwammen obenauf im Sturzbach der Gleichnisse: Unsichtbar blieb Allah nur, weil auch Wind nur ablesbar wird am herumgewirbelten Dreck. Kaum begab Rumi sich in Badestuben, sah er Leiber als Kleider, die man auch noch ablegen müßte, um wirklich nackt zu sein, Leiber und Leichen als Kleider. Imposant – und schier unwiderleglich – des Metaphernspenders und -speiers Maulana Dschelaluddin Rumis Darlegung, das Existente, genau wie in Hindustan, sei bloß Schaum und Garnichts, also doch wohl Samsara, und umgekehrt: das scheinbar Nichtexistente das einzig wirklich Vorhandene – alles Metaphern- und Parabelfluten, die weniger nach Koran klingen als Bhagavatgita, Manichäismus und Gnosis. Vollsaftige, quicklebendige, improvisatorische Verse, wahnwitzig, obszön, dämonisch, verrückt, orientalisch undiszipliniert, redundant, geschwätzig, nervend, Themen totreitend. Bettler, denen weder Brot noch Fett noch Mehl noch Wasser gegeben wurde, hoben im Mathnawi sofort den Rock, um dem Geizhals ins Haus zu kacken. Ozean multiphon gequirlter Märchenströme: Suleiman (Salomo) forderte die Königin von Saba auf, nicht länger die Sonne anzubeten, so als wäre Rumi nie in dieser Richtung schwach geworden. Ein beim Seitensprung ertappter Richter versteckte sich in einer Holzkiste, so als wenn Rumi bereits Giovanni Boccaccio wär (geboren dreißig Jahre nach Rumi).

      Erquickliche Animismen prasseln unablässig; herzerhebender Panpsychismus floriert – Salomo sprach mit Pflanzen; und alle Dinge gewannen im Mathnawi Stimme: Erde sprach zum Körper: »Kehr zurück zu mir!« Licht sprach zur Maus: »Hier kommst du nicht rein!« Tag und Nacht befaßten sich mit Wahrheit. Der Hals der Leute war zu eng, Wahrheit zu schlucken; aber das Meer vermochte Moses’ Worte zu verstehen. Wasser fragte nach seinem Trinker. Sogar Abstrakta, wie zuvor in Fariduddin ’Attars Musibatname (Buch des Leidens), erhoben jederzeit das Wort: »Wudschud (Sein) sprach: ›Komm, ich bin köstlich!‹ Verderbnis sprach: ›Geh, ich bin nichts.‹« Bei der Auferstehung würde nicht nur die Zunge sprechen, sondern jedes einzelne Glied, also der Fuß z. B. sich bezichtigen, den Weg der Lust gegangen zu sein, oder die Rute, unkeusch gewesen zu sein. All diese Unendlichkeiten hingen nur als ein Atom neben Allahs Unendlichkeit, und nur als ein Krümel neben Rumis Reservoir an weiteren Geschichten, die, wenn er sie alle auch noch diktiert hätte, keine vierzig Kamele hätten abtransportieren können. Rumi sah sowohl sich wie jeden Sufi und Menschen als importierten Elefanten, der vom Mutterland Indien träumt, und als heimwehverzehrten Papageien in einem Käfig für Torkelnde.

      Die Welt – ein Brunnenschacht, und ich darin ein Eimer, der im Tod raufgezogen wird ans Tageslicht. Den Elefanten erwähnt Rumi im Mathnawi 95mal, die Ameise 45mal, das Atom 109mal, den Mond 427mal, Engel 166mal, Esel 545mal.

       Die Seele des Gläubigen ist ein Stachelschwein

       Rumi, Fariduddin ’Attar und Omar Khajjam

      Rumi, wie alle Sufis trunken vom Becher liebesdurstig hochgeschaukelter Unvergänglichkeit, sah Diesseits und Jenseits Tür an Tür wohnen, schwelgte unbeirrbar und zutraulich in Evidenzen, sprach als Dichter vom Kuß auf den Todesbecher und von seliger Ankunft hinter dem Vorhang. So sehr Rumi sich die Augen von »Schielblick und Irrtum« wusch: In der Überfülle und Fülle all seiner Gedanken, der Formulierfiguren tiefsinntriefenden Parabelurwalds, tauchte lebenslang ein Gedanke nicht auf, vermutlich nie, oder wenn, dann nur kurz, der im Kopf Omar Khajjams und auch Fariduddin ’Attars Kopf durchaus auftauchte.

      Omar Khajjam schrieb den Vierzeiler: »Wenn du das Weltgeheimnis lebend lüftest, / kannst du’s vielleicht in deinen Tod hinüberretten. / Doch was du nicht bei Lebzeit schaust, wie willst du’s greifen, / sobald dir dann die Sinne schwinden?«

      Dieser Gedankengang wurde von ’Attar und Rumi bis hin zu allen heutigen Nahtoderfahrungsenthusiastinnen à la Prof. Elisabeth Kübler-Ross geflissentlich überlesen, aus Überlebensstrategie heraus. Er entzieht reihenweise den Mystikern aller Zeiten und Zonen die Basis ihrer Gewißheiten, zieht also den Stöpsel aus jeglicher Mystik und wird deshalb nur selten bis nie formuliert, außer viel später einmal von Eduard von Hartmann: »Es liegt hier der immer wiederkehrende Selbstwiderspruch aller Mystik vor, das Aufgehen des Seins und Bewußtseins in Gott mit einem fortbestehenden Sonderbewußtsein doch noch genießen zu wollen, und die Hoffnung auf dieses widerspruchsvolle


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