Der Golem. Gustav Meyrink

Der Golem - Gustav Meyrink


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Greises.

      Plötzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmählich in den Rhythmus des böhmischen »Schlapak« – eines schleifenden Schiebetanzes – über, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinanderpreßten.

      »So recht. Bravo. Äh da! fang, hep, hep!« rief von der Estrade ein schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstück in der Richtung. Es erreichte sein Ziel nicht: Ich sah noch, wie es über das Tanzgewühl hinblitzte; da war es plötzlich verschwunden. Ein Strolch – sein Gesicht kam mir so bekannt vor; ich glaube, es muß derselbe gewesen sein, der neulich bei dem Regenguß neben Charousek gestanden – hatte seine Hand hinter dem Busentuch seiner Tänzerin, wo er sie bisher hartnäckig ruhen gehabt, hervorgezogen – ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die Münze war geschnappt. Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in der Nähe grinsten leise.

      »Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu schließen«, sagte Zwakh lachend. »Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehört«, fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem Marionettenspieler zu, daß ich es nicht sehen sollte. – Ich verstand gar wohl: Es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich für krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzählen. Irgend etwas.

      Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß vom Herzen in die Augen. Wenn er wüßte, wie weh mir sein Mitleid tat!

      Ich überhörte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine Worte einleitete – ich weiß nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir wurde immer kälter und starrer, wie vorhin, als ich als hölzernes Gesicht auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. Dann war ich plötzlich mitten drin in der Erzählung, die mich fremdartig umfing – einhüllte, wie ein lebloses Stück aus einem Lesebuch. Zwakh begann:

      »Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.

      – – – No, was soll ich sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als Jüngling kannte er nichts als Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch Stundengeben mühsam erwarb, mußte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie grüne Wiesen aussehen und Hecken und Hügel voll Blumen und Wälder, erfuhr er, glaube ich, nur aus Büchern. Wie wenig von Sonnenschein in Prags schwarze Gassen fällt, wissen Sie ja selbst! Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich selbstverständlich.

      Nun, und mit der Zeit wurde er ein berühmter Rechtsgelehrter. So berühmt, daß alle Leute – Richter und alte Advokaten – zu ihm fragen kamen, wenn sie irgend etwas nicht wußten. Dabei lebte er ärmlich wie ein Bettler in einer Dunkelkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.

      So vergingen Jahre um Jahre, und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner Wissenschaft wurde allmählich Sprichwort im ganzen Lande. Daß ein Mann wie er weichen Herzensempfindungen zugänglich sein könnte, zumal sein Haar schon anfing weiß zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem als von Jurisprudenz sprechen gehört zu haben, hätte wohl keiner geglaubt. Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glüht die Sehnsucht am heißesten.

      An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als Höchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: als nämlich Seine Majestät der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer Universität ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem jungen, bildschönen Fräulein aus zwar armer, aber adeliger Familie verlobt.

      Und wirklich schien von da an das Glück bei Dr. Hulbert eingezogen zu sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge Gattin auf Händen, und jeden Wunsch zu erfüllen, den er ihr nur irgend von den Augen abzulesen vermochte, war seine höchste Freude.

      In seinem Glück vergaß er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher andere getan hätte, seine leidenden Mitmenschen. ›Mir hat Gott meine Sehnsucht gestillt‹, soll er einmal gesagt haben, – ›er hat mir ein Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir hergegangen ist seit Kindheit an: Er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen gegeben, das die Erde trägt. Und so will ich, daß ein Schimmer von diesem Glück, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fällt.‹ Und so kam es, daß er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der Erwägung, wie wohl ihm selbst ein solch gutes Werk getan hätte, wäre es ihm am eigenen Leib und Leben in den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht gleich einer fluchwürdigen, weil wir wohl doch nicht richtig unterscheiden können zwischen dem, was giftigen Samen in sich trägt und was heilsamen, so begab es sich hier, daß aus Dr. Hulberts mitleidsvollem Werk das bitterste Leid für ihn selbst sproß.

      Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte es, daß sie der Rektor gerade in dem Augenblick, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum Zeichen seiner Liebe mit einem Strauß Rosen als Geburtstagspräsent zu überraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat über Wohltat gehäuft hatte.

      Man sagt, daß die blaue Muttergottesblume für immer ihre Farbe verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein Hagelwetter verkündet, plötzlich auf sie fällt; gewiß ist, daß die Seele des alten Mannes für immer erblindete an dem Tage, wo sein Glück in Scherben ging. Am selben Abend noch saß er, er, der bis dahin nicht gewußt, was Unmäßigkeit ist, hier beim ›Loisitschek‹ – fast bewußtlos vom Fusel – bis zum Morgengrauen. Und der ›Loisitschek‹ wurde seine Heimstätte für den Rest seines zerstörten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines Neubaus, im Winter hier auf den hölzernen Bänken.

      Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte beließ man ihm stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berühmten Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, daß man Ärgernis nähme an seinem Wandel.

      Allmählich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur Gründung jener seltsamen Gemeinschaft, die man noch heutigentags ›das Bataillon‹ nennt.

      Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk für alle die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein entlassener Sträfling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert splitternackt hinaus auf den Altstädter Ring – und das Amt auf der sogenannten ›Fischbanka‹ sah sich genötigt, einen Anzug beizustellen. Sollte eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie schnell einen Strolch, der bezirkszuständig war, und wurde dadurch ansässig.

      Hundert solcher Auswege wußte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenüber stand die Polizei machtlos da. –

      Was diese Ausgestoßenen der menschlichen Gesellschaft ›verdienten‹, übergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer der gemeinsamen Kassa, aus der der nötige Lebensunterhalt bestritten wurde. Niemals ließ sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden kommen. Mag sein, daß angesichts dieser eisernen Disziplin der Name ›das Bataillon‹ entstand.

      Pünktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des Unglücks jährte, das den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim ›Loisitschek‹ eine seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrängt standen sie hier: Bettler, Vagabunden, Zuhälter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. – Und dann erzählte ihnen Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen, gerade unter dem Krönungsbilde Seiner Majestät des Kaisers, seine Lebensgeschichte: wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und später Rector magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat – zur Feier ihres Geburtstages und zugleich zum Gedächtnis jener Stunde, da er dereinst um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war –, da versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen. Dann geschah es wohl zuweilen, daß irgendein liederliches Frauenzimmer ihm


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