Der Golem. Gustav Meyrink

Der Golem - Gustav Meyrink


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gelähmt – das Gesicht kalkweiß und verzerrt vor Entsetzen – stehen bleibt.

      Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: das Bild, wie Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen – über das Kanalgitter gebeugt –, und ein Todesgeschrei gellt aus der Erde empor.

      Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzähne, daß es wie ein Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort hervorbringen kann.

      Ich kann die Finger nicht sehen, weiß, daß sie unsichtbar sind, und doch empfinde ich sie wie etwas Körperliches. Und klar steht es in meinem Bewußtsein: Sie gehören zu der gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der Hahnpaßgasse das Buch »Ibbur« gegeben hat. »Wasser, Wasser!« schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.

      »In seine Wohnung schaffen, Arzt holen – der Archivar Hillel kennt sich aus in solchen Dingen – zu ihm bringen!« beraten sie murmelnd. Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre, und Prokop und Vrieslander tragen mich hinaus.

      WACH

      Zwakh war vor uns die Treppen hinauf gelaufen, und ich hörte, wie Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn ängstlich ausfragte und er sie zu beruhigen trachtete.

      Ich gab mir keine Mühe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und erriet mehr, als ich es in Worten verstand, daß Zwakh erzählte, mir sei ein Unfall zugestoßen, und sie kämen bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und mich wieder zu Bewußtsein zu bringen.

      Noch immer konnte ich kein Glied rühren, und die unsichtbaren Finger hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher, und das Gefühl des Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wußte genau, wo ich war und was mit mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, daß man mich wie einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels niedersetzte und – allein ließ.

      Eine ruhige, natürliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach einer langen Wanderung genießt, erfüllte mich.

      Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab, der von der Gasse heraufschimmerte.

      Alles kam mir selbstverständlich vor, und ich wunderte mich weder darüber, daß Hillel mit einem jüdischen siebenflammigen Sabbatleuchter eintrat, noch daß er mir gelassen »guten Abend« wünschte wie jemandem, dessen Kommen er erwartet hatte.

      Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas Besonderes bemerkt hatte – obgleich wir einander oft drei- bis viermal in der Woche auf den Stiegen begegnet waren –, fiel mir plötzlich stark an ihm auf, wie er so hin- und herging, einige Gegenstände auf der Kommode zurechtrückte und schließlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls siebenflammigen, anzündete. Nämlich: sein Ebenmaß an Leib und Gliedern und der schmale, feine Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.

      Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht älter sein als ich: höchstens fünfundvierzig Jahre zählen.

      »Du bist um einige Minuten früher gekommen«, begann er nach einer Weile, »als anzunehmen war, sonst hätte ich die Lichter schon vorher angezündet.« Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der mir zu Häupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte. Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.

      Sofort ließen die unsichtbaren Finger meine Zunge los, und der Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich: Niemand außer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.

      Sein »du« und die Bemerkung, daß er mich erwartet habe, hatten also mir gegolten?!

      Viel befremdender als diese beiden Umstände an sich wirkte es auf mich, daß ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darüber zu empfinden.

      Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich, wobei er mir von der Bahre aufstehen half, mit der Hand auf einen Sessel wies und sagte:

      »Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die gespenstischen Dinge – die Kischuph – auf den Menschen; das Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt sind mild und erwärmend.«

      Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern sollen. Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenüber und fuhr gelassen fort: »Auch ein silberner Spiegel, hätte er Empfindung, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glänzend geworden, gibt er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung.«

      »Wohl dem Menschen«, setzte er leise hinzu, »der von sich sagen kann: Ich bin geschliffen.« – Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich hörte ihn einen hebräischen Satz murmeln: »Lischuosècho Kiwisi Adoschem.« Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:

      »Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf, und ich habe dich wach gemacht.

      Im Psalm David heißt es:

      ›Da sprach ich in mir selbst: Jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist es, welche diese Veränderung gemacht hat.‹ Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstätten, so wähnen sie, sie hätten den Schlaf abgeschüttelt, und wissen nicht, daß sie ihren Sinnen zum Opfer fallen und die Beute eines neuen, viel tieferen Schlafes werden, als der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein, und das ist das, dem du dich jetzt näherst. Sprich den Menschen davon, und sie werden sagen, du seist krank, denn sie können dich nicht verstehen. Darum ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.

      Sie fahren dahin wie ein Strom –

      Und sind wie ein Schlaf.

      Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird –

      Das des Abends abgehauen wird und verdorret.«

      »Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir das Buch ›Ibbur‹ gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?« wollte ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte fassen konnte:

      »Nimm an, der Mann, der zu dir kam und den du den Golem nennst, bedeute die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf Erden ist nichts als ein ewiges Symbol, in Staub gekleidet!

      Wie denkst du mit dem Auge? Jede Form, die du siehst, denkst du mit dem Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst.«

      Ich fühlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen, sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein uferloses Meer.

      Ruhevoll fuhr Hillel fort:

      »Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben. Schlaf und Tod sind dasselbe.«

      »– – – kann nicht mehr sterben?« – Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.

      »Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg des Todes. Du hast das Buch ›Ibbur‹ genommen und darin gelesen. Deine Seele ist schwanger geworden vom Geist des Lebens«, hörte ich ihn reden.

      »Hillel, Hillel, laß mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den des Sterbens!« schrie alles wild in mir auf. Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.

      »Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens noch den des Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: ›Ehe Gott die Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese strich Gott aus dem Buche der Lebenden.‹ Du aber gehst einen Weg und hast ihn aus freiem Willen beschritten – wenn du es jetzt auch selbst nicht mehr weißt: Du bist berufen von dir selbst. Gräm dich nicht: Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung.


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