Der Golem. Gustav Meyrink

Der Golem - Gustav Meyrink


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      Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und höchster Angst. Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben – oder besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. – Ich hätte keine Ruhe sonst.

      Sagen Sie keiner Menschenseele, daß ich Ihnen geschrieben habe. Auch nicht, wohin Sie heute gehen werden!

      Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir – »neulich« – (Sie werden durch diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten, wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fürchte mich, meinen Namen darunterzusetzen) – so viel Vertrauen eingeflößt, und weiter, daß Ihr lieber seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat – alles das gibt mir den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen kann, zu wenden.

      Ich flehe Sie an, kommen Sie heute abend um fünf Uhr in die Domkirche auf dem Hradschin.

      Eine Ihnen bekannte Dame.

      Wohl eine Viertelstunde lang saß ich da und hielt den Brief in der Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen – weggeweht von dem frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam lächelnd und verheißungsvoll – ein Frühlingskind – auf mich zu. Ein Menschenherz suchte Hilfe bei mir. – Bei mir! Wie sah meine Stube plötzlich so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.

      Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum und Glanz.

      So sollte der morsche Baum noch Früchte tragen!

      Ich fühlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher schlafen gelegen in mir – verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele, verschüttet von dem Geröll, das der Alltag häuft, wie eine Quelle losbricht aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.

      Und ich wußte so gewiß, wie ich den Brief in der Hand hielt, daß ich würde helfen können, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab mir die Sicherheit.

      Wieder und wieder las ich die Stelle: »… und weiter, daß Ihr lieber seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat – – –«; – mir stand der Atem still. Klang das nicht wie Verheißung: »Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein«? Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt mir das Geschenk entgegen: Die Rückerinnerung, nach der ich dürstete – würde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!

      »Ihr lieber seliger Vater« – wie fremdartig die Worte klangen, als ich sie mir vorsagte! – Vater! – Einen Augenblick sah ich das müde Gesicht eines alten Mannes mit weißem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe auftauchen – fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt –, dann kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.

      Erschreckt fuhr ich auf: Hatte ich die Zeit verträumt? Ich blickte auf die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fünf.

      Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und schritt die Treppen hinab. Was kümmerte mich heute das Geraune der dunklen Winkel, die bösartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von ihnen aufstiegen: »Wir lassen dich nicht – du bist unser – wir wollen nicht, daß du dich freust – das wäre noch schöner, Freude hier im Haus!«

      Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen Gängen und Ecken her um mich gelegt mit würgenden Händen: Heute wich er vor dem lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels Tür.

      Sollte ich eintreten?

      Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders heute – so, als dürfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die Hand des Lebens vorwärts, die Stiegen hinab.

      Die Gasse lag weiß im Schnee.

      Ich glaube, daß viele Leute mich gegrüßt haben; ich erinnere mich nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fühlte ich an die Brust, ob ich den Brief auch bei mir trüge:

      Es ging eine Wärme von der Stelle aus.

      Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten Laubengänge auf dem Altstädter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll Eiszapfen hing, hinüber über die steinerne Brücke mit ihren Heiligenstatuen und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.

      Unten schäumte der Fluß voll Haß gegen die Fundamente.

      Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehöhlten Sandstein der heiligen Luitgard mit »den Qualen der Verdammten« darin: Dicht lag der Schnee auf den Lidern der Büßenden und den Ketten an ihren betend erhobenen Händen.

      Torbogen nahmen mich auf und entließen mich, Paläste zogen langsam an mir vorüber, mit geschnitzten, hochmütigen Portalen, darinnen Löwenköpfe in bronzene Ringe bissen.

      Auch hier überall Schnee, Schnee. Weich, weiß wie das Fell eines riesigen Eisbären.

      Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten teilnahmslos zu den Wolken empor.

      Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender Vögel war.

      Als ich die unzähligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt die Stadt mit ihren Dächern und Giebeln vor meinem Sinn.

      Schon schlich die Dämmerung die Häuserreihen entlang, da trat ich auf den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel. Fußstapfen – die Ränder mit Krusten aus Eis – führten hin zum Nebentor. Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene Töne eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie Tränentropfen der Schwermut fielen sie in die Verlassenheit.

      Ich hörte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, als die Kirchentüre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar blinkte in starrer Ruhe herüber zu mir durch den grünen und blauen Schimmer sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die Betstühle niedersank. Funken sprühten aus roten, gläsernen Ampeln.

      Welker Duft von Wachs und Weihrauch.

      Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem Reich der Regungslosigkeit.

      Ein Leben ohne Herzschlag erfüllte den Raum – ein heimliches, geduldiges Warten.

      Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf. Da! – Aus weiter, weiter Ferne drang das Geräusch von Pferdehufen gedämpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte näher kommen und verstummte.

      Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufällt.

      Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine zarte, schmale Damenhand hatte meinen Arm berührt.

      »Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt mir, hier in den Betstühlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen muß.«

      Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nüchterner Klarheit. Der Tag hatte mich plötzlich angefaßt.

      »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, daß Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht haben.«

      Ich stotterte ein paar banale Worte.

      »Aber ich wußte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiß niemand nachgegangen.«

      Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.

      Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der Hahnpaßgasse flüchtete. Ich war auch nicht erstaunt darüber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.

      Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der Dämmerung


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