Verfallen. Dorothea Renckhoff

Verfallen - Dorothea Renckhoff


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Fingern Rasierapparate und Computerspiele in goldbedrucktes Papier, und während ich Päckchen für Päckchen mit Schweineschwänzchen aus glänzendem Ringelband versah, überlegte ich fieberhaft, wo ich am Heiligen Abend nach Geschäftsschluss noch etwas würde kaufen können, und was das sein sollte.

      Schließlich fiel mir nur der Weihnachtsmarkt ein, und als die Tür des Personaleingangs am 24. Dezember hinter mir zufiel, hastete ich so schnell ich konnte, mit steifen Beinen vom langen Stehen, auf den großen Platz vor der Kirche zu, wo ich die Verkaufsstände aufgebaut wusste. Ich zitterte vor Angst, es könnte auch dafür schon zu spät sein.

      Schon von Weitem sah ich, dass ich auf die merkwürdigen Funde nicht mehr hoffen konnte, die auf solchen Märkten zuweilen zu machen sind; viele der Buden waren schon geschlossen, manche Verkäufer packten gerade ein, und die Weihnachtslieder aus den Lautsprechern wehten über menschenleere Gänge zwischen den Ständen. Das Kinderkarussell drehte sich noch; ein einsamer Vater stand neben einem Schimmel und hielt mit frierenden Händen ein kleines Mädchen im Sattel fest; die hölzernen Pferdeaugen um ihn her sahen ihn so vorwurfsvoll an, als hielte er sie von der Weihnachtswiese zurück, wo sie einmal im Jahr springen und galoppieren durften, wie sie selbst es wollten, und Gras fressen und süße rote Äpfel.

      Ein Karussellpferd, das wäre das Richtige, aber freiwillig würde wohl keines mit mir kommen, und so eilte ich über den Platz, gebrannte Mandeln gab es noch zu kaufen, wollene Mützen und Räuchermännchen, aber das war es auch schon fast, und mit wachsender Verzweiflung schaute ich mich um und versuchte mir vorzustellen, wie sich ein solcher qualmender, kleiner Gnom in Annas erlesene Umgebung einfügen würde. Ich sah das höfliche Lächeln ihrer Mutter über ein so kindisches Geschenk, und begann zu rennen, denn vielleicht gab es ja doch noch etwas anderes, etwas, das nicht ganz so schrecklich war… Und dann sah ich sie. Das Mädchen mit dem goldenen Ring in den Augen, sie, die für die schrecklichste Stunde meines Lebens verantwortlich war.

      Sie trug wieder den grünlichen Mantel, aber diesmal hatte sie keinen Gurkeneimer und keine Blumen. Etwas Schimmerndes lag vor ihr auf dem Verkaufstisch, aber ich achtete gar nicht darauf, ich stürzte nur auf sie zu und fing an zu schreien, stammelnd, ich weiß nicht, was, ich war so außer mir, dass ich nichts Sinnvolles mehr von mir geben konnte. Sie sah mich erschrocken an und streckte mir die Hände entgegen, und dann packte sie mich bei den Armen und schüttelte den Kopf, und hielt mich fest und sah mich an mit diesen merkwürdigen Augen, und wieder glänzte das Laternenlicht auf dem goldenen Ring.

      Ich versuchte einzuatmen; ich bekam kaum Luft. Die Musik brach ab, ein lautes Knacken kam aus den Lautsprechern, und plötzlich war es ganz still. Ich sah, dass das Mädchen die Lippen bewegte, und dann hörte ich auch, dass sie etwas sagte, sehr leise, ‚… mir leid,’ verstand ich, ‚… ein Kleid… dafür,’ und sie drückte mir etwas Seidiges, Weiches in die Hände. Im nächsten Augenblick stieß sie mich mit großer Kraft zurück, raffte die schimmernden Sachen vor sich zusammen und verschwand zwischen den Ständen.

      Ich wollte ihr nach, aber ich kam nicht schnell genug an den Tischen vorbei, und dann sahen zwei Männer von ihrer Arbeit auf und musterten mich unfreundlich, und ich gab die sinnlose Verfolgung auf. Wie ein Idiot stand ich vor dem leergefegten Stand und riss und zerrte an dem Stoff, den sie mir zurück gelassen hatte, ich sehnte mich danach, das Krachen der Fäden in dem billigen Gewebe zu hören, als könnte ich der Fremden damit Schmerzen zufügen. Ich bohrte die Finger hinein, kratzte mit den Nägeln, scheuerte das Tuch über die schartigen Bretter des Tisches; fast hätte ich noch die Zähne zu Hilfe genommen. Aber dann wurde mir bewusst, dass es meiner Wut schon zu lange widerstand, um eines dieser dünnen Gewänder zu sein, deren kostbarer Glanz mit den Lichtern des Weihnachtsmarktes erlischt.

      Ich breitete es auseinander und fand keine Risse, keine Löcher, nicht einmal Brüche oder Knitterfalten, und als ich es genauer betrachtete, wurde mir bewusst, was für einen kostbaren Stoff ich hatte zerfetzen wollen. Es war ein Seidensamt, das erkannte ich, Anna hatte einmal im Konzert meine Hand von ihrem Schenkel geschoben, weil, wie sie mir später lächelnd erklärt hatte, der warme Druck auf die Dauer Spuren auf dem kostbaren Gewebe hätte hinterlassen können, denn, hatte sie hinzugefügt, es sei ein Samt, der, aus Seide gefertigt, deren Reißfestigkeit, aber auch ihre freudige Empfänglichkeit für Flecken besäße.

      Doch Annas schöner Rock von jenem Abend war ein Lappen im Vergleich zu dem Kleid, das mir das fremde Mädchen zugesteckt hatte. Dieser Stoff war dichter und fester und dabei viel weicher und zarter; er glühte aus sich heraus in dunkel leuchtenden Farben und changierte im Spiel des Lichts, als sei er aus schimmernden Federn gewebt.

      Ich zögerte nur einen Augenblick. Kein Zweifel, das war das richtige Geschenk für Anna, und was sollte auch geschehen? Stoffe welken ja nicht.

      Dieses Mal sahen keine fremden Gäste meinen Triumph. Und doch war mein Glück noch größer als am Nikolausabend, als ich den wunderbaren Stoff an Annas schönem Körper sah, im Licht der vielen Bienenwachskerzen zwischen den Zweigen des riesigen Baums. Als Anna mich nach der Feier ganz selbstverständlich mit in ihr Zimmer nahm, unter den Augen der Familie, und am Weihnachtsabend. Als ich den wunderbaren Stoff über einen Stuhl am Bett gebreitet sah.

      Im Einschlafen schaute ich noch einmal hin. Noch im Dunkeln schien er Licht zu atmen.

      Im Erwachen traf mein Blick wieder auf den Stuhl am Bett. Stoffe können welken. Dieser jedenfalls hatte es getan. Von dem Wunder des Weihnachtsabends war nichts geblieben als eben das billige, dünne Ding mit den Glitzerfäden, das ich anfänglich in Händen zu halten geglaubt hatte. Genau an den Stellen, wo meine Finger es zerfetzt hatten, war es zerrissen und hatte Löcher, und zerzauste Federchen quollen daraus hervor wie aus einem alten Kissen.

      Anna stand in ihrem seidenen Morgenmantel am Fenster und beobachtete mich. Sie hielt die Lippen mit einer Strenge aufeinander gepresst, die ich nicht an ihr kannte, aber ihre Augen sahen nur traurig aus. Vielleicht wartete sie darauf, dass ich etwas sagte, vielleicht gab sie mir eine Chance zu erklären, um Verzeihung zu bitten. Aber wie sollte ich erklären, was ich selber nicht verstand? Wir sahen einander an; der Augenblick dehnte sich, und dann war er vorbei.

      ‚Kaufst du deine Geschenke für mich auf dem Weihnachtsmarkt?’ fragte Anna.

      Zuerst bekam ich keine Luft. ‚Ja,’ sagte ich dann, ‚ich weiß nicht. Vielleicht.’ Während ich aufstand und mich anzog, fiel kein weiteres Wort, und ohne Abschied verließ ich das Haus.

      Ich weiß nicht, wie mir nach alldem noch einmal eine Versöhnung mit Anna gelang. Sie muss mich wirklich geliebt haben, und wenn ich ihr bei dieser Gelegenheit offen gesagt hätte, wie sehr all die Einladungen und Geschenke mich belasteten, vielleicht wären mir dann die Wege verschlossen geblieben, die Lucilles Stimme mich geführt hat. Aber meine Angst, Anna zu verlieren, war viel zu groß für ein derartiges Geständnis. Vielleicht handelte ich auch im Bann einer dumpfen Überzeugung, dass ich sie unweigerlich bald verlieren würde; anders lässt sich der Fatalismus kaum erklären, mit dem ich Silvester wieder in unsinniger Suche nach einem Geschenk durch die Straßen irrte und dann tatsächlich zum dritten Mal mit einem Wunderding aus den Händen des merkwürdigen, fremden Mädchens zu Anna aufbrach.

      Dieses Mal hatte ich sie hinter den hohen Schaufenstern eines eleganten Ladens erspäht. Sie stand in einem dichten Wald aus Topfpflanzen und grünen Ranken und hütete eine Schar von großen, bunten Vögeln in goldfarbenen Käfigen. Als ich das Geschäft betrat, umfing mich zugleich mit der warmen Luft ein jubelnder Gesang, fremdartig und schön und von einer Kraft, dass er nicht aus Vogelkehlen zu kommen schien. Das Mädchen sah mich sofort und wartete meinen Wutausbruch nicht ab; ohne ein Wort löste sie einen der Käfige von dem Zweig, an dem er gehangen hatte, und reichte ihn mir. Ich wollte etwas sagen, aber der Vogel begann so betörend zu singen, dass ich mit beiden Händen nach den Messingstäben der kleinen Volière griff und mich widerspruchslos zum Gehen wandte. Ich weiß nicht, was ich erwartete und ob ich wirklich die Hoffnung hatte, dass es diesmal kein Blendwerk wäre, was mir die merkwürdige Fremde anbot, aber ich fühlte mich völlig besänftigt.

      Auf dem Rückweg zur Tür sah ich Lucille zum ersten Mal, sie, die jetzt allein in ihrem Hotelzimmer auf einem blauen Sofa sitzt, allein und winzig klein in sich zusammengefallen. Ich sah sie, aber ihre Stimme habe ich


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