Verfallen. Dorothea Renckhoff

Verfallen - Dorothea Renckhoff


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wo alles Dumpfe und Gepresste abfalle wie eine Hülle und wo jedes Gefühl, wie übergroß oder quälend es im alltäglichen Leben auch scheine, jedes Glück, alle Sehnsucht und auch der größte Schmerz, sich im Gesang löse und zur Glückseligkeit werde.

      Ich hörte mir das verblüfft an. Die Vorstellung, meine Verzweiflung lasse sich durch Gesang auf eine höhere Ebene heben und in Glückseligkeit verwandeln, schien mir absurd und zugleich unglaublich verlockend. ‚Daneben,’ sagte sie, ‚ist jedes normale Leben eine enge, bleierne Zeit, und wenn du diese Weite einmal empfunden hast, willst du nie mehr zurück in die flache, graue Welt der andern,’ und dann schaute sie mich an und sah, dass ich sie zu verstehen begann, und als sie mich fragte, ob ich ihr helfen würde, dem Geheimnis der jubelnden Vögel auf die Spur zu kommen, nickte ich nur.

      Und so stand ich neben ihr, als sie zum zweiten Mal an diesem Tag zu der großen, goldenen Brombeere über der Apothekentür aufsah. Doch kaum waren wir wieder vor den Verkaufstisch getreten, war mit einem Schlag alles anders.

      Der Apotheker war offensichtlich auf unser Erscheinen vorbereitet, denn er fragte sofort, in welchem Zusammenhang wir unsere Nachforschungen anstellten. Lucille nahm mir die Antwort ab; sie wirkte, als hätte unser Gespräch über die Oper sie gestärkt zurückgelassen, oder vielleicht war es auch meine Zusage, die ihr Zuversicht gab. Während sie Erwerb und Verwandlung der schönen Vögel schilderte, ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern und fand überall die namengebende Brombeere der Apotheke; ich sah sieben Sorten Bonbons, fünf verschiedene Tees und eine ganze Regalwand mit Medikamenten, deren Zusammensetzung Bestandteile dieser Pflanze enthielt. Ich spürte auch ein Aroma in der Luft, so zurückhaltend, dass es mir beim ersten Besuch gar nicht bewusst geworden war, jetzt aber fiel mir auf, dass man an verschiedenen Stellen Schalen aus böhmischem Glas aufgestellt hatte, in denen sich getrocknete Blätter häuften, vermutlich ebenfalls von der Brombeere. Die Ahnung des Duftes im Raum verstärkte sich ein wenig, als der Apotheker eine breite Hand in eins der tiefroten Gefäße sinken ließ und mit den Fingern in dem Geraschel spielte, während er Lucille zuhörte, aufmerksam und mit großem Interesse.

      Denn er hatte, als Einziger in der ganzen Straße, Mädchen und Vogelhandlung gesehen. Tatsächlich hatte das Geschäft nur an diesem Silvestertag existiert; er hatte sich schon gewundert, dass man für den letzten Tag des Jahres die Eröffnung eines so pompösen Ladens ansetzte, doch wirklich gestaunt hatte er am darauffolgenden Morgen, als er die leeren Schaufenster sah. Mit der ersten Helligkeit des Neujahrstages war eine aufgeregte Mutter vor seiner Tür erschienen und hatte um Fieberzäpfchen gebeten, und während er ihr das Verlangte durch das Fensterchen reichte, kam ihm irgendetwas im Hintergrund seines Bewusstseins merkwürdig vor. Doch erst, als er langsam in die Offizin zurückkehrte und überlegte, ob er sich noch einmal auf sein Feldbett legen sollte, wurde ihm klar, dass das am Vortag erst eröffnete Geschäft mit seinen prächtig ausgestatteten Räumen über Nacht völlig leer geräumt worden war.

      Genauer gesagt, zwischen vier Uhr und dem Zeitpunkt der winterlichen Morgendämmerung. Denn Apotheker Brombeer hatte vom Silvesternachmittag bis zum Neujahrsmorgen, acht Uhr, Dienst gehabt. Mehrfach war er von der Nachtglocke geweckt worden; jedes Mal hatte er einen Blick zu den begrünten Schaufenstern hinübergeworfen, wo die großen Vögel sich noch immer im Licht unsichtbarer Lampen in ihren schimmernden Käfigen wiegten. Das letzte Läuten war um vier Uhr ertönt, und das war merkwürdig, denn gerade in den ersten Stunden des neuen Jahres gaben sonst Kunden einander den Glockenzug in die Hand, die nicht von Schmerz und Krankheit zu ihm getrieben wurden, sondern von dem brennenden Wunsch nach einer neuen Zahnbürste oder einer Flasche Mineralwasser.

      Als er um vier Uhr den Scheinwerfer über dem Eingang einschaltete, funkelte vor ihm der goldene Ring in den Augen des Mädchens aus der Vogelhandlung auf. Er erkannte sie sofort, denn immer wieder hatte er sie tagsüber gesehen in ihrem grünlichen Mantel, mit den eigenartig raschen Bewegungen und dem plötzlichen Innehalten und Verharren zwischendurch, als wenn sie auf etwas lauere. Sie präsentierte ihm ein Rezept für eine Salbe, das einer der Hautärzte von oben am Vormittag ausgestellt hatte. Er fragte sie, ziemlich fassungslos, warum sie damit nicht während der regulären Öffnungszeiten zu ihm gekommen sei, anstatt ihn aus dem Schlaf zu wecken, und sie sah ihn aus ihren merkwürdigen Augen an, ohne zu sprechen, und zeigte nur achselzuckend auf den Laden, als wolle sie sagen, sie sei zu sehr mit der Eröffnung beschäftigt gewesen, und dann hatte er ihr das Verlangte gegeben und ihr nachgesehen, wie sie über die Straße wechselte und zu ihren blühenden Bäumen zurückkehrte. Und nun ließ ihm die Frage keine Ruhe, wie sie allein das große Geschäft mit seiner reichen und lebendigen Dekoration sollte leer geräumt haben, oder wer ihr dabei geholfen haben konnte, und was dieses kurze Auftauchen und plötzliche Verschwinden zu bedeuten haben mochte. Und nachdenklich zerrieb er ein paar Brombeerblätter zwischen den weißen Fingern.

      Lucille schlug vor, die Hautärzte zu befragen, und der Apotheker nickte ihr lächelnd zu, ‚haben Sie schon einmal von ärztlicher Schweigepflicht gehört?’ fragte er, aber jetzt mischte sich die Helferin ein, die sich mit einem Mörser in der Hand aus den hinteren Räumen hervorgemogelt hatte, es komme ganz darauf an, wer von beiden das Mädchen behandelt habe, sagte sie, Dr. Jaeckli, ja, der schweige wie ein Grab, aber von Haider wisse sie, dass er es nicht so genau nehme, und ohne auf die warnenden Blicke ihres Chefs zu achten, fügte sie hinzu, dieser Haider erzähle zuweilen auf die boshafteste Weise Dinge herum, die den Patienten wirklich schaden könnten, wenn sie bekannt würden, doch jetzt wurde sie durch den Apotheker unterbrochen, ‚wir leben von dieser Praxis’, sagte er, ganz leise, und sie verstummte.

      ‚Dürfen Sie mir denn sagen, wer das Rezept ausgestellt hat?’ fragte Lucille. Für mich klang es ironisch, aber er antwortete ganz ernsthaft, jawohl, das dürfe er, denn sämtliche Rezepte von dort oben würden von Dr. Jaeckli unterschrieben, aus welchem Grund auch immer, und so wisse er nie, wer von beiden behandelt habe, so eigenartig das auch sei.

      Ich fand, wir könnten nun gehen, aber Lucille blieb stehen und sah den Apotheker unverwandt an. Es wurde ganz still, man hörte nichts als das leise Knistern, mit dem die zerriebenen Brombeerblätter in die Schale rieselten. Plötzlich ließ er den Rest, den er noch zwischen den Fingern hielt, fallen und sagte, er dürfe es ja eigentlich nicht weitergeben, aber das Ganze sei so ungemein merkwürdig, dass er sich wie entbunden von den üblichen Regeln fühle. Dann schwieg er wieder und erwiderte Lucilles Blick.

      ‚Das Mädchen hatte einen sonderbaren Namen,’ sagte er schließlich. ‚Nur einen einzigen, ich weiß nicht, ob Vor- oder Nachname. Sie hieß Ighuana.’

      Das genügte, um ohne erneute umständliche Beschreibung bei den Ärzten nachzufragen, und ich widersprach nicht, als Lucille entschieden in den ersten Stock hinaufstieg, obwohl ich nicht auf irgendwelche Auskünfte zu hoffen wagte. Eine Frau putzte gerade die Treppe; ich ging auf Zehenspitzen, um ihre Arbeit nicht gleich wieder zunichte zu machen, aber sie schien uns gar nicht zu beachten.

      In der Tür zur Praxis drängelte uns ein Mann beiseite; er kam von drinnen und warf uns aus dem Augenwinkel abscheuliche Blicke zu, während er an uns vorbei hastete. Ich sah nur einen dunklen Mantel, der ihm irgendwie zu groß zu sein schien, und diesen stechenden Blick, und dann trat er mit dem Fuß gegen den Putzeimer der Frau, vielleicht in der Eile, aber mir kam es doch so vor, als hätte er es mit Absicht getan, ehe er die Treppe hinunter lief. Der Eimer kippte natürlich um, das Wasser rann über die frisch gewischten Stufen, und die Frau kam heraufgerannt, um eine noch größere Überschwemmung zu verhindern, aber ich stand näher und hob ihn auf, ehe er völlig auslaufen konnte.

      In der Praxis erfuhren wir gar nichts. Silvester hatte es keine reguläre Sprechstunde gegeben, natürlich nicht, das wäre ja noch schöner, keine der Damen war also hier gewesen, nur die beiden Ärzte hatten wohl einige Notfälle behandelt, und nein, sie seien nicht zu sprechen, Dr. Jaeckli habe am Neujahrstag eine Reise angetreten, und Herr Haider sei soeben fort gegangen, wir müssten ihm eigentlich auf der Treppe begegnet sein. Lucille nickte und sagte, wir kämen übermorgen wieder.

      Warum übermorgen, fragte ich, schon in der Tür. Wie ein Schlag traf mich der Gedanke, dass an diesem Tag wieder die Schule beginnen würde. Ich hatte das völlig vergessen, als gehörte es zum Leben eines andern; ich hatte mich auf einer ganz anderen Ebene bewegt, in einer leuchtenden Sphäre starker Emotionen und


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