Verfallen. Dorothea Renckhoff

Verfallen - Dorothea Renckhoff


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in dessen Eis tief unter mir eine brennende Quelle sprang. Ich wusste ja auch in diesem Augenblick im Laden noch gar nicht, dass es Lucille war, die da stand, ein bisschen unscheinbar und sehr jung, und völlig selbstvergessen. Sie schien ganz in den Anblick der Vögel versunken; ihr Blick wanderte vom einen zum andern und saugte sich fest an den federbedeckten Brüsten, an den vibrierenden Kehlen, und ihre ganze Gestalt war hingegebenes Lauschen. Ich wich auf meinem Weg ein wenig zur Seite, um sie nicht zu stören, und dann schlug mir beim Öffnen der Tür die eisige Luft von draußen entgegen; ich knöpfte schnell den Mantel auf, um das schöne Tier damit wenigstens ein bisschen zu schützen, und im nächsten Augenblick hatte ich die lauschende Lucille auch schon vergessen.

      Ich dachte nur an Anna, und ich ging zu ihr wie unter Zwang. Das Haus war voller Gäste, in fast allen Räumen wurde gefeiert, und nur ganz wenige unter den Anwesenden hatten meine elende Blamage mit der verwelkten Wunderblume miterlebt. Ich spürte eine Welle von Bewunderung durch den Raum gehen, als das Licht auf dem Gefieder meines Vogels spielte und er zu singen begann. Aber ich achtete kaum darauf und wüsste nicht zu sagen, wer die Menschen waren, die um uns herumstanden. Ich erinnere mich vage an die Zurückhaltung im Gesicht von Annas Mutter, als sie den Käfig entgegennahm; offensichtlich sah sie mich und meine Geschenke inzwischen endgültig mit Skepsis und Vorbehalt. Aber auch das blieb, so wichtig es hätte sein müssen, ein schwacher und flüchtiger Eindruck.

      Das Einzige, woran ich mich deutlich erinnere, ist Annas Gesicht. Sie strahlte mich an; ihre Augen leuchteten, als sie den Vogel sah; sie hatte noch immer Zutrauen zu mir, trotz allem. Meine Ängste schienen sich aufzulösen im Glück dieses Abends. Nur einmal fiel ein Schatten in mein Bewusstsein; das war, als Anna dem Vogel die Käfigtür öffnete und ihm eine große Schale mit warmem Wasser hinstellte, damit er sich baden konnte, und wirklich hörte er auf zu singen und kam herausgeflattert; es sah aus, als betrachtete er voller Staunen sein eigenes Bild auf dem Wasserspiegel, ehe er hineintauchte und mit den Flügeln funkelnde Tropfen nach allen Seiten spritzte. Da glaubte ich einen Moment lang, fließende Farben in der klaren Flüssigkeit und das Gefieder erblassen zu sehen, aber im nächsten Augenblick war der Spuk vorbei, das Wasser war durchsichtig und das Federkleid leuchtend wie zuvor, und ich drängte die Angst in mir zurück.

      Kurz vor Mitternacht erinnerte sich Anna an einen Kanarienvogel, den sie einmal besessen hatte, ‚er geriet immer in Panik,’ sagte sie, ‚wenn draußen die Raketen explodierten,’ und sie reichte mir den Käfig und führte mich in den Keller, ‚bringen wir ihn dahin, wo er das Krachen nicht hört,’ fügte sie hinzu, und dann ging es noch eine Treppe tiefer, und sie zeigte mir mehrere gepanzerte Räume, wo ihr Vater seine Gemäldesammlung aufbewahrte, ‚klimatisiert,’ erklärte sie, ‚wegen der Bilder.’ Sie schloss eine der Tresorkammern auf und machte Licht, und der Vogel erhielt einen Platz auf einem kleinen Tisch in der Mitte.

      ‚Wir dürfen ihn nur nicht vergessen,’ sagte Anna, als sie den Raum wieder verschloss, ‚der arme Trilltrall hat manche Silvesternacht hier gesessen und war ganz glücklich, aber einmal bin ich am Neujahrsmorgen krank geworden, ich bekam hohes Fieber, keiner dachte mehr an den kleinen Vogel, und als ich wieder klar denken konnte und nach ihm fragte, da fanden sie ihn tot in seinem Käfig, verdurstet, es hatte ihm ja niemand Wasser gebracht.’

      Wir gaben uns die Hand darauf, dass dieses Mal nichts Derartiges passieren sollte, und ich frage mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn wir am Neujahrstag nicht in den Tresorraum gegangen wären, aus welchem Grund auch immer, und auch an den nächsten Tagen nicht, so lange, wie es eben dauert, bis ein Vogel verhungert und verdurstet ist. Vielleicht hätte man sich ein Tier nicht so genau angesehen, an dessen Tod man sich schuldig fühlte, oder es wäre, wenn genug Zeit vergangen wäre, überhaupt nur noch ein zierliches, kleines Gerippe übrig gewesen, etwas kleiner, als vermutet, möglicherweise, aber darüber hätte dann wohl niemand mehr nachgedacht.

      Aber wir hatten uns die Hand darauf gegeben, und so stiegen wir am Neujahrsmorgen noch vor dem Frühstück hinunter, und der Anblick blieb mir nicht erspart. Ich weiß nicht, ob ich wirklich überrascht war, oder ob ich es erwartet hatte; ich weiß nicht einmal, ob Anna wirklich überrascht war, obwohl sie doch am Abend zuvor an mich und den Wert meines Geschenks geglaubt hatte. Ich weiß nur, dass mit einem Schlag eine rasende Wut aus ihr hervorbrach, kaum dass sie einen Blick auf das unscheinbare, graue Tierchen geworfen hatte, das da in dem immer noch goldfarbenen Käfig saß, auf dem Boden, wie man es von kranken Vögeln kennt, in dem nach Anis duftenden Sand, zu kraftlos, um sich auf einer der Stangen zu halten, aufgeplustert und zerzaust, und nur schwächliche Piepstöne kamen aus dem kleinen Schnabel.

      Ihr Ausbruch zeigte, wie sehr die schmähliche Verwandlung der ersten beiden Prunkstücke sie verletzt und welche Kraft es sie gekostet hatte, mir zweimal zu verzeihen und noch immer Zutrauen zu mir zu haben, aber jetzt, schrie sie, sei es für immer genug, genug mit meinen Tricks, sie wisse nicht, wie sie funktionierten, und es interessiere sie auch nicht, und wie geschickt ich mich auch dabei anstelle, sie habe keinen Sinn für diese Art von Humor, der immer nur auf ihre Kosten gehe, und dass ich es nach dem ersten Mal nicht habe gut sein lassen, zeige nicht nur, dass ich sie nicht liebe, nein, der Spaß an solchen kindischen Scherzen mache deutlich, dass ich eben doch noch so unreif sei, wie es meinem Alter entspreche und wie sie es nicht habe glauben wollen, und dabei stieß und puffte sie mich mit dem Käfig und trieb mich die Treppen hinauf und aus dem Haus, und als ich die Stufen in die Auffahrt hinunterstolperte, warf sie den Käfig hinter mir her und knallte die Tür zu.

      Ich bückte mich und hob ihn auf; die Messingstäbe waren verbeult; der kleine Vogel piepste erschrocken, aber er schien unverletzt zu sein. Ich blickte stumpfsinnig auf ihn nieder, und dann öffnete sich die Haustür noch einmal, aber es war nur die Haushälterin, die mit steifen Schritten hinter mir her kam und mir meinen Mantel brachte. Ich zog ihn an und sagte nicht einmal danke.

      Es war ein trüber Tag. Die eisigen Temperaturen vom Jahresende waren einer feuchten Kälte gewichen; das Licht sickerte schmutzig aus tief hängenden Wolken, und der drohende Regen musste den noch immer gefrorenen Boden innerhalb weniger Sekunden mit einer Eisschicht überziehen. Mir war das gleich. Ich schleppte mich zur Straße, fort von Annas Haus, so weit fort wie möglich, ohne zu wissen, wohin. Ich wollte nicht nach Hause, ich fürchtete den Spott meiner Mutter, aber noch mehr ihr Mitleid, und so schlich ich ohne festes Ziel vorwärts, fröstelnd vor Müdigkeit, und der Vogelkäfig hing wie ein Bleiklumpen an meinem Arm. Unter meinen Füßen knirschten die Scherben von zerbrochenen Flaschen, knackte das Holz abgebrannter Raketen, spürte ich die aufgeweichten Reste von Papierschlangen und Feuerwerkskörpern. Aus Goldregen, leuchtenden Wasserfällen und bunt strahlenden Sternen war Unrat geworden, noch schneller als aus Blume, Kleid und Vogel.

      Ich trottete vor mich hin, ohne auf den Weg zu achten. Außer mir war kaum jemand unterwegs, nur vor den Schaufenstern eines Geschäfts sah ich eine kleine Gruppe von Menschen. Ich versuchte, auf dem Bürgersteig an ihnen vorbei zu kommen, doch da bemerkte ich Lucille unter ihnen, deren Namen ich an diesem Neujahrsmorgen noch nicht kannte, von der ich noch gar nichts wusste, nur dass sie am Tag zuvor lauschend und dem Lauschen hingegeben zwischen den Bäumen und wuchernden Pflanzen des Vogelladens gestanden hatte, und erst, als ich sie erkannt hatte, wurde mir bewusst, dass wir uns vor eben diesem Laden befanden. Dass ich das nicht gleich bemerkt hatte, lag nicht nur an meiner Geistesabwesenheit, und eigentlich wundere ich mich heute, dass es mir überhaupt auffiel, denn Vögel, Käfige und das gesamte grüne Rankenwerk waren aus den Fenstern verschwunden; der ganze Laden war vollkommen leer, und natürlich war auch das merkwürdige Mädchen mit dem grünlichen Mantel nicht mehr da, das wohl uns allen die falschen Prunkvögel verkauft oder gegeben hatte.

      Die Überraschung riss mich ein wenig aus meiner Apathie. Wie hatte man diese große Dekoration mit den reich blühenden Bäumen von gestern Nachmittag bis heute früh so vollständig beseitigen können, und warum war das geschehen, ausgerechnet am Silvesterabend, oder vielleicht auch in der Nacht? Die Gruppe um mich schien von derselben Frage, mehr aber noch von Zorn bewegt, denn offensichtlich war allen Ähnliches geschehen wie mir. Die meisten hatten, wie ich, einen prächtigen Käfig bei sich mit einem schäbigen, kleinen Vogel darin. Einige der Tierchen piepsten so matt wie der meine; andere lagen tot zwischen den Gitterstäben auf dem Boden, in dem weißen Sand, der noch immer schwach nach Anis duftete.

      Ein sehr kleiner Mann hatte


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