Fürstenkinder Staffel 1 – Adelsroman. Helga Torsten
Reisekostüm wiederkam, wurde sein Schluchzen stärker.
Sie kniete bei ihm nieder und streichelte ihn tröstend.
»Weine doch nicht, Liebling. Bitte, bitte, weine nicht! Ich kann es nicht ertragen. Es macht mich krank.«
Sie wischte ihm mit einem ihrer zarten Batisttüchlein die Tränen fort. Dann nahm sie ihn bei der Hand.
»Ich bringe dich jetzt zu Lina. Sie wird auf dich achtgeben.«
Lina nahm erschrocken das weinende Kind in Empfang.
»Was ist denn geschehen, um Himmels willen? Warum weint er denn so sehr?«
Sie musterte das junge Mädchen im Reisekostüm und sah auch Sybills verweinte Augen. »Müssen Sie denn wirklich schon fort?«
Sybill nickte. Von ihren langen dunklen Wimpern perlten langsam zwei Tränen.
»Ja, Lina. Ich muß fort. Bitte, achten Sie auf den Kleinen. Ich werde mich schriftlich beim Fürsten verabschieden und mich bei ihm bedanken. Wenn Sie Seiner Durchlaucht das bitte ausrichten wollen?«
Die Tränen wollten ihre Stimme ersticken, aber sie beherrschte sich mühsam.
»Es war schön auf Schloß Degencamp. Ich war sehr gern hier.«
Sie küßte das Kind, schüttelte Lina die Hand. Dann lief sie davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Lina war ratlos.
»So was! Was hat es da bloß gegeben? Und ich hoffte…« Sie murmelte etwas, was der Kleine nicht verstand. Er versuchte, sich von ihrer Hand zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Lina hielt, was sie der Baronesse versprochen hatte. Sie paßte gut auf den kleinen Prinzen auf.
*
Der Fürst begleitete den Baron liebenswürdig bis an die Tür. Er hatte dem alten Mann aus einer finanziellen Notlage helfen können.
Langsam schlenderte er in die Bibliothek zurück. Da klopfte es, und Lina trat mit dem schluchzenden Prinzen ein.
»Was ist denn geschehen?«
Er sah erstaunt und erschrocken auf die beiden.
Lina erklärte ihm stockend, was sich ereignet hatte.
»Sie ist abgereist? Die Baronesse ist abgereist? Aber warum denn? Aus welchem Grunde so plötzlich? Hat sie Ihnen das nicht gesagt?«
Der Fürst war zornig. Man sah es. Er war zornig und enttäuscht zugleich. Was hatte das zu bedeuten?
Er verstand die Zusammenhänge nicht.
Als die Mamsell ihm ausrichtete, was die Baronesse ihr aufgetragen hatte, schickte der Fürst sie wieder in die Küche zurück.
Er nahm seinen weinenden Sohn auf den Schoß und begann, ihn vorsichtig auszufragen.
»Und sie hat auch geweint!« hörte er seinen Sohn erzählen.
»Wirklich?«
»Ja, ebenso wie Tante Diana. Mir ist auch ganz schrecklich traurig zumute. Bist du auch traurig, Vater?«
Der Fürst nickte langsam. »Ja, ich bin auch sehr traurig, mein Sohn. Warum hat denn die Tante Diana geweint?«
Er wunderte sich. Die Baronesse und Diana kannten einander doch kaum.
»Hat sie geweint, als die Tante Sybill sich von ihr verabschiedet hat?«
Das Kind schüttelte den Kopf.
»Nein. Tante Sybill war nicht bei ihr. Wir sind nur am Zimmer von Tante Diana vorbeigegangen. Wir wollten mit meiner Eisenbahn spielen. Und dann hat die Tante Irene ganz laut mit der Tante Diana geschimpft. Sie hat gesagt, sie soll doch nun bald Fürstin Degencamp werden und noch anderes, aber ich habe nicht alles verstanden. Und da hat es angefangen«, schloß er seufzend.
»Was hat da angefangen?« horchte der Fürst auf, der staunend zuhörte.
»Na, daß Tante Sybill so traurig wurde. Sie wurde plötzlich ganz blaß, und dann hat sie auch gleich gesagt, nun müsse sie abreisen. Sie könnte nicht mehr länger bleiben. Es ginge nicht!«
Wieder flossen Wolframs Tränen, aber zu seinem Erstaunen hob der Vater ihn plötzlich vom Schoß herunter und sagte lachend:
»Was meinst du, wenn wir die Tante Sybill wieder zurückholen, mein Junge? Ich glaube, ich weiß jetzt, warum sie fortgelaufen ist. Dieses dumme kleine Mädchen«, flüsterte er zärtlich.
»O ja, Vater. Wir wollen sie zurückholen! Bitte ja?«
Wölfchen umfaßte die Knie des Vaters und war ganz aufgeregt.
Der Fürst erhob sich. Wenn das so war, wie er es sich vorstellte, dann bedeutete das, daß Sybill ihn liebte. Es konnte nichts anderes bedeuten!
Er schritt erregt im Zimmer auf und ab. Dann hatte er einen Entschluß gefaßt.
Er hielt diese Ungewißheit keine Sekunde länger aus. Er mußte es wissen, jetzt gleich! Er würde versuchen, sie am Bahnhof einzuholen!
Er nahm seinen Sohn an die Hand und eilte zur Tür und die Treppe hinunter. In der großen Halle kehrte er noch einmal um. Wohin mußte er fahren, um sie wiederzusehen? Wo war sie zu Hause?
Er fragte eines der Stubenmädchen, wo die Studenten seien. Als man ihm mitteilte, sie machten einen Ausflug, brummte er unwillig.
Was nun? Er drückte Wölfchen in einen Sessel und lief wieder nach oben. Er suchte und fand Sybills Zimmer und trat ein. Dort stülpte er einfach den Papierkorb um und breitete dessen Inhalt einfach auf dem Teppich aus.
Und da fand er, was er suchte. Einen Briefumschlag mit dem Absender von Sybills Mutter. Er steckte ihn ein und lief eilig wieder zurück.
Der Fürst nahm den Jungen an die Hand und befahl einem der Diener, seinen schnellsten Wagen aus der Garage zu fahren.
In mörderischem Tempo ging es zum Bahnhof. Aber der Zug fuhr gerade aus der Halle.
Er starrte ihm enttäuscht nach. Da kam ihm ein Gedanke. Ja! So würde er es machen! Er lächelte erleichtert. Dann fuhr er in schnellem Tempo weiter, überholte den stampfenden und brausenden Zug, und war ihm bald schon weit voraus.
*
Sybill saß still in eine Ecke gedrückt und sah zum Fenster des Abteils hinaus.
Äcker und Wiesen flogen an ihren verweinten Augen vorbei.
Sybill nahm kaum etwas wahr. All ihre Gedanken und Wünsche waren auf Schloß Degencamp zurückgeblieben.
Ein Lied kam ihr in den Sinn, das die Mutter früher oft gesungen hatte: All meine Gedanken, die ich hab’, die sind bei dir!
Sie tupfte vorsichtig zwei Tränen von den Wimpern. Eine ältere Dame, die ihr gegenübersaß, fragte sie etwas. Sybill antwortete höflich, aber geistesabwesend.
Die Dame betrachtete sie mitleidig. Wahrscheinlich hat sie Liebeskummer, dachte sie mitfühlend.
Aber sie ist ja noch jung. Sie wird vergessen.
Als der Zug im Bahnhof einlief, hob Sybill ihren sandfarbenen Koffer aus dem Gepäcknetz und stieg langsam aus. Niemand holte sie ab. Die Mutter wußte ja gar nicht, daß sie schon kam.
Sie winkte ein Taxi heran und ließ sich heimfahren.
Hoffentlich ist Mama überhaupt da, dachte sie, als sie den Fahrer entlohnte. Auf ihr Klingeln öffnete zunächst niemand. Erst nach einer ganzen Weile hörte sie, daß der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde.
»Gott sei Dank, Mama! Ich fürchtete schon, du seiest nicht daheim.«
Sie fiel der Mutter um den Hals und küßte sie zärtlich. »Ach, Mama!«
»Was ist denn, Kind? Hast du Kummer?«
Die Baronin nahm der Tochter den Koffer ab und steilte ihn beiseite. »Ich mache uns schnell einen Kaffee, einverstanden?«