Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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das Brot herausgeholt hatte, band sie sechs Fladen in ein Tuch und schickte es Onkel Ssaber. Aidin und Urhan fuhren in einer fünfspännigen Kutsche eilends zu dessen Haus. Und die Tante steckte ihnen Leckerbissen in die Tasche.

      Es war einmal eine Zeit, da hielt sich der Vater, wenn er die Treppe hinaufstieg, an den Sprossen des Geländers fest und zählte sie: einundzwanzig. Oben nahm er den Hut ab, hängte ihn an die Garderobe, legte den Mantel ab, schüttelte ihn aus und hängte ihn daneben. Er wischte mit einem Tuch über die Hosen, hängte sie aber nicht auf, sondern legte sie unter die Matratze, so dass sie morgens, wenn er sie wieder anzog, messerscharfe Bügelfalten hatten.

      Auch eine Schwester hatte es gegeben, Aida mit Namen. Irgendwo im Hintergrund, in der Küche oder in der Speisekammer, quälte sie sich mit ihren Rheumaschmerzen ab. Und ging fast zugrunde.

      Und nun – Kälte und Stille hatten sich in den Zimmern festgesetzt – war Urhan nicht da, um unter die schmutz-verkrustete Decke zu kriechen in der trügerischen Hoffnung auf einen ruhigen Schlaf. Nein, nein! Alle waren sie gestorben. Und er war der Letzte.

      „Auch dieser da muss noch weg! Egal wie!“, hatte er gesagt.

      „Worauf wartest du dann noch?“, hatte Ayas gefragt.

      „Wo ist er bloß?“

      „Im Teehaus am Salzsee, wie immer.“

      „Bei diesem Schnee?“

      „Du bist doch kein Kind der arabischen Wüste. Die Kinder in Ardebil* kommen schon mit dem Schnee zur Welt. Und vielleicht ist er auch schon tot.“

      „Nein, ich weiß, dass er am Leben ist.“

      „Woher willst du das wissen? Wie sollte er nach zehn Tagen noch leben?“

      „Aidin ist am Leben“, sagte Urhan voller Überzeugung. „Ich glaube nicht, dass er stirbt. Gestern habe ich erfahren, dass er eine fünfzehnjährige Tochter hat. Habe erfahren, dass die seinen Personalausweis in den Händen haben. Wenn er noch lebt, haben wir’s bald mit tausenderlei Forderungen zu tun, Ayas.“

      „Dann geh schon! Wie ein Löwe werde ich dir beistehen. Überhaupt nichts wird passieren. Denk nicht daran, dass ich alt geworden bin! Ich bin immer noch der Wachtmeister Ayas ...“

      Urhan lauschte dem Zischen der Lampe und dachte an das Mädchen, das fünfzehn Jahre alt war, blondes Haar hatte und eines Tages kommen würde.

      Ayas neigte den Kopf und starrte Urhan ins Gesicht. „Beeil dich, Bruder!“

      Urhan blieb stumm.

      „Wenn ich an der Stelle deines Vaters gewesen wäre – Gott hab ihn selig“, meinte Ayas, „hätte ich Aidin gleich damals, als ihm der Kamm schwoll und er sich als Dichter aufgespielt hat, zur Grenze gebracht und ihn abgeschoben.“

      „Der Vater. Immer der Vater“, sagte Urhan, „der Vater hatte Angst vor ihm.“

      „Du hast auch Angst vor ihm.“

      „Nein, ich hab keine Angst. Ich hab’s nur nicht übers Herz gebracht.“

      „Wärst du letzte Woche gegangen, wärst du jetzt deine Sorgen los. Man muss ‚Wasser‘ sagen und trinken, muss ‚Atem‘ sagen und Luft holen. Anderenfalls ist’s aus mit einem.“

      Er setzte seine Mütze auf, erhob sich, knöpfte seinen Mantel zu, von unten nach oben, glatt und ordentlich. Dann sagte er herrisch, als spräche er zu einem Untergebenen: „Was willst du also tun?“

      Urhan erwachte aus seiner Geistesabwesenheit. Er hob den Kopf. „Ich geh!“, sagte er.

      Ayas stampfte mit den Füßen auf. „So wie ich. Steh schon auf und geh!“

      Und er machte sich davon. Dabei vergaß er ganz, seine wöchentliche Zuwendung einzustreichen. Vielleicht wollte er sie aber auch nicht nehmen. Er ließ Urhan in großer Verwirrung zurück. Was für eine Einsamkeit einen doch überfallen konnte, einen verhexte, erstarren ließ. Wie einen Berg. Aber konnte er denn bleiben?

      Kurz danach, es war genau zwei Uhr nachmittags, brachte es Urhan nicht fertig, die Posten aus dem Grundbuch ins Hauptbuch zu übertragen, so sehr er sich auch bemühte, zu einem Abschluss zu kommen. Voll Unruhe zählte er die eingenommenen Geldscheine und steckte sie in die Hosentasche. Er legte die Bücher in den Rahmen des Rechenbretts, vergaß aber ganz, beides in die Schreibtischschublade zu stecken und diese abzuschließen. Die Mütze jedoch vergaß er nicht. Die trug er sommers wie winters. Während der Arbeit legte er sie auf den Tisch, beim Weggehen nahm er sie wieder an sich. Er nahm sie, setzte sie sich auf und knüpfte den Mantel zu. Er ließ den Blick durchs Kontor schweifen. Den Gehilfen gab er keine Aufgaben, sagte nur: „Ihr könnt gehen!“

      Er wartete, bis sie ihr Essgeschirr zusammengepackt hatten und gingen. Plötzlich hatte er das Gefühl, etwas mitnehmen oder noch etwas erledigen zu müssen. Er sah um sich und dachte angestrengt nach, doch fiel ihm nichts ein. Nachdem er die Gaszufuhr der Glühstrumpflampe unterbrochen hatte, verließ er das Kontor. Er sperrte die Schlösser oben und unten an der Tür ab und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf alles.

      Dann ging er auf den Ausgang des Basars zu. Er drückte der Bettlerin Martha, die auf der Treppe an der Ecke der Passage saß, einen Fünf-Tuman-Schein* in die Hand und sagte: „Du zitterst ja wie Espenlaub, Martha!“

      „Es ist schrecklich kalt geworden“, sagte die alte Frau.

      „Gott segne dich!“

      Urhan kehrte nochmals um. Hinten in der Karawanserei sah er die Lastenträger, die in ihrem Blechkanister ein Holzfeuer unterhielten. Überall lag Rauch in der Luft. Er deutete auf die unter den Gewölben aufgestapelten Säcke mit Pistazien und Sonnenblumenkernen und sagte zu Essma’il: „Ihr einfältigen Feueranbeter, ihr werdet diese Karawanserei noch einmal in Brand stecken.“

      Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er unter dem Gewölbe an einer Reihe von Säcken mit gerösteten Sonnenblumenkernen entlang, strich mit der Hand darüber und sagte, ohne sich direkt an Essma’il zu wenden: „Passt auch auf das Geschäft auf!“

      Dann ging er auf die Pistaziensäcke zu, die auf der linken Seite bis hoch unter die Decke aufgestapelt waren und in den nächsten Tagen zu den Einzelhändlern geschafft werden sollten und ihm sicher noch vor Neujahr einiges an Gewinn einbringen würden. Er strich auch über die prallen Pistaziensäcke und warf nochmals einen Blick nach hinten. Die Lastträger hatten die Ohrenklappen ihrer Mützen heruntergezogen; sie nickten Urhan einen Gruß zu. Ihre Augen waren müde und tränten. Ganz langsam ging er die Passage des Basars entlang und hörte ein „Ssalam, Herr Urhan“.

      Er wollte nicht aufsehen, erwiderte nur den Gruß, wer das auch immer gewesen sein mochte.

      Er kannte diese Leute nicht, und er hatte auch nicht das Bedürfnis, sie zu kennen. Wie der Wind eilten sie nahe an einem vorbei.

      „Wenn der Wind unter den Hutrand bläst, hebt er den Hut hoch und weht ihn weg. Pass auf!“, pflegte der Vater zu sagen.

      Was waren das doch noch für angenehme Zeiten gewesen! Als Vater noch lebte, machte es unvorstellbar großen Spaß, auf der Terrasse des Hauses zu schlafen. Auch nachts war der Himmel blau. Und man hatte bunte Träume. Bis spät in die Nacht war aus der Küche das Klappern des Geschirrs zu hören, wenn Mutter und Aida abwuschen. Aidin wälzte sich so lange von einer Seite auf die andere, bis alle schliefen und er dann sein Buch öffnen und lesen konnte. Manchmal schien es mir, als ob er die Seiten des Buches geradezu fressen würde. Und am Ende waren’s auch die Bücher, die ihn zugrunde gerichtet haben. Aus dem Zimmer am Ende des Korridors war der Laut seines Lidschlags und seines Nachdenkens zu hören. Und die rolligen Katzen schrien auf den hohen Hofmauern.

      „Was liest du denn da?“, fragte Vater.

      Sicherlich bereitete er sich auf den Unterricht vor, denn er antwortete: „Ich mache Hausaufgaben, Vater.“

      „Lern nur!“, meinte Vater. „Wir wollen doch sehen, was für große Leistungen du mal vorzuweisen hast.“

      Er hatte die


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