Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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fragte ich.

      „Misch dich da nicht ein!“

      Und er füllte die Handtasche des Mädchens mit Pistazien und klappte den Deckel zu.

      „Du musst jetzt gehen, Ssurmeh.“ Beim Anblick ihrer honiggelben, bittenden Augen wurde mir ganz schwach. Nachts fand ich keinen Schlaf.

      Er schwor: „Bei Gott, ich bring dich um, Bruder!“

      Und nicht lange danach sagte Mutter: „Wo ist mein Aidin?“ Und meinte denselben Menschen, der einst einen maßgeschneiderten grünen Anzug trug, sich eine Krawatte umband, glatt rasiert war, nur mit einem dünnen Schnurrbart.

      Voll Wohlwollen schaute ihn Mutter an und sagte lächelnd: „Da wird einem ganz warm ums Herz!“

      Und jetzt fragte sie: „Wo ist mein Aidin?“

      Wusstest du denn wirklich nicht, wo dein Aidin war? Er war doch immer entweder im Teehaus am Salzsee oder hinter der zerfallenen Mauer des Akhawan-Gartens. Manchmal auch ganz hinten in der Karawanserei, hockte mit den Lastträgem um einen Blechkanister herum und aß Melonenkerne, oder aber die aßen welche, und er gab Nachrichten aus dem Zweiten Weltkrieg zum Besten.

      „Find ihn, egal wo er ist!“, sagte Mutter.

      Jetzt aber gab es die Mutter nicht mehr. Im alten Stadtfriedhof schlummerte sie an der Seite des Vaters unter der schweren Last der Erde und des Schnees.

      Die Straße war kalt und schmutzig. Über der ganzen Stadt lagen Nebel und Rauch. Urhan drehte sich einen Augenblick um und schaute zurück. Ihm schien, als stiege all der Rauch nur aus der Karawanserei auf und zöge durch den Eingang der Passage ab. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, umzukehren und denen zu sagen, sie sollten das Feuer löschen, es irgendwie unschädlich machen.

      Gut, es ist Winter. Hier ist immer Winter. Sie sollen sich einen Kanonenofen kaufen, ein Abzugsrohr anbringen. Er wird das Geld dafür geben. Dann kümmerte er sich aber nicht mehr weiter darum und stapfte auf dem Gehweg stadtauswärts. Jetzt stieß er niemanden mehr an, und kein Handwagen stieß mehr gegen seine Beine; da flog auch kein von Kinderhand geworfener Schneeball mehr. Er zog zwar immer den Kopf ein, aber sein Körper war schwer, und wohl oder übel klebten die Schneebälle in seinem Nacken.

      Es hatte kräftig geschneit, und es sah nach noch mehr Schnee aus. In der Hoffnung, eine Droschke oder ein Auto würde ihn mitnehmen, trat Urhan auf die Fahrbahn. Aber der Schnee hatte die ganze Stadt lahmgelegt. Kein Auto, kein Karren, überhaupt keine Gelegenheit, irgendwohin zu gelangen. Nur ein Polizei-Jeep mit Ketten durchpflügte den Schnee und hinterließ zwei parallel verlaufende Schlangenlinien.

      Was sollte er jetzt tun? Bis zum Teehaus am Salzsee fuhr man eine halbe Stunde, aber würde er zu Fuß, zumal bei diesem Schnee, nicht in die Dunkelheit geraten, bis er dort ankam? Umso besser. Bei Dunkelheit würde der weniger leiden. Und keiner würde etwas davon bemerken. Und konnte er denn jetzt überhaupt noch umkehren? Wie, wenn er steckenbliebe? Nein, er würde rechtzeitig ankommen. Angenommen, die Nacht überraschte ihn; vielleicht würden ihn auch die Wölfe zerreißen. Zum Teufel! Jetzt hatte er das Ende der Sheikh-Ssafi-Straße erreicht, er bog nach links ab und ging weiter. Die trockene, eingerostete Stimme der Mutter, ihr schweratmiges Keuchen klangen ihm immer noch in den Ohren. Wenn er diesen Verrückten nicht fand, was dann? Nein, sicherlich würde er ihn finden, dort in dem Teehaus.

      „Ich finde ihn, Mutter. Ich versprech’s dir!“ Diesmal hatte er sich das selbst versprochen. Zum allerletzten Mal.

      Je weiter er sich von der Stadt entfernte, umso stärker wurde das Summen und Brummen in seinem Schädel. Und da war doch nichts. Keiner rannte durch den Schnee, da lag auch keiner lang ausgestreckt auf dem Boden. Nicht einmal Lastträger verbrannten da noch Holz in ihrem Blechkanister. Vor ihm lag nur die weiße Ebene, die kein Lebewesen zu durchqueren wagte. Der Himmel hatte dunkelblaue Flecken, und ein Rabe auf den Zweigen des vertrockneten letzten Baumes der Stadt krächzte ‚kalt, kalt‘.

      Er hatte den Kragen hochgeschlagen. Wie eine alte Schildkröte kroch er durch die verschneite Ebene, schritt ganz ruhig aus, ohne Eile, wie es seine Gewohnheit war. Und er war mit dem Weg vertraut. Denn immer wieder war er ihn gegangen und hatte jenen im Teehaus am Salzsee aufgespürt.

      „Du Ungeheuer“, sagte ich, „was treibst du hier?“

      „Mein Herr“, sagte Aidin, „auch ich habe ein Herz. Ich hatte Lust auf einen Tee.“

      „Halt’s Maul! Trink deinen Tee in der Karawanserei!“

      Aidin faltete die Zeitung, die er in der Hand hielt, ordentlich zusammen und steckte sie sich in die Jackentasche.

      Er sagte: „Man trinkt Tee, damit es sich nachher auch wirklich lohnt zu pissen.“

      „Zum Henker mit dir! Ich bin’s wirklich müde.“

      Es war ein sonniger Tag, auf den Hügeln gegenüber weideten die Schafe, und von ferne war der Lärm der Stadt zu hören. Ich hieß ihn mit einer Handbewegung in das Auto einsteigen.

      „Nein“, sagte er.

      „Was soll das heißen? Nein?“

      „Komm, lass uns zu Fuß zurückschlendern, Herr Bruder. Im Auto dreht sich mir alles im Kopf. Ich krieg einen Anfall.“

      „Zur Hölle!“, sagte ich und gab ihm eins hinter die Ohren. Das war das einzige, was wirkte. Er musste mich schließlich ernst nehmen. Und wie sollte ich ihn sonst unter diesen Umständen unter Kontrolle halten? Mashd Abbass, der Wirt des Teehauses, meinte, was immer auch sei, er sei doch ein Mensch und auf alle Fälle der Ältere. Da schlug ich nochmals zu. Er kroch auf den Rücksitz des Autos. Mit zitternden Händen und Schaum vor dem Mund. Vor der Karawanserei lud ich ihn ab. Seine Augen waren verdreht. Sie legten ihn in der Passage auf den Boden. Einer der Lastenträger, ich glaube, es war Essma’il, ritzte mit einer Ahle um seinen ganzen Körper herum eine Linie.

      „Warum machst du das denn, mein Sohn?“, fragte ich ihn.

      „Damit seine Krankheit da auf dem Boden zurückbleibt und sich nicht mehr erhebt.“

      „Aha, wie meine Pilzkrankheit.“ Mir fiel der Hautpilz an meinem Hals ein. Ein trockener Pilz, ungefähr von der Größe eines Fünf-Rial-Stücks. Mit einem Blaustift hatten wir eine Linie ringsherum gezogen. Nach drei Tagen war er abgefallen und hatte sich nie wieder gezeigt.

      Ein anderer Lastenträger wusch Aidin das Gesicht mit Wasser ab. Er hatte sich ihm auf die Beine gehockt. Nachdem sie ihm kaltes Wasser über den Kopf geschüttet hatten, richtete sich Aidin auf, als wäre er vom Schlaf erwacht.

      Er zog aus dem Hosenbund eine alte Zeitung hervor und las: „Tags darauf brachte man die Nachricht, oh Prinz, dass Mah-Banu aus Schmerz darüber, dass du sie verlassen hast, alle Farbe aus dem Gesicht gewichen sei und dass sie wohl bald ihr Leben aushauchen werde. Komm und hab Mitleid mit den Unglücklichen! Da sprach er: ‚Befragt die Bitterorange, was ich tun soll!‘ Und sie befragten sie. Die Bitterorange öffnete sich, und jene Schöne im armseligen Gewand verankerte ihr Schiff in den Gewässern des Prinzen und stahl ihm sein Herz. Und Mah-Banu sprach: ‚Ich bin erlöst. Nur eine frische Weide kann das Pferd der Liebe zügeln. Es geziemt sich, dass diese Schöne das Land regiert, denn meine Herrschaft geht zu Ende ...‘“

      Ich bemerkte, dass mich die Lastenträger spöttisch anschauten, als ob ich diesen Unsinn verzapft hätte.

      „Schon gut, red nicht so viel“, sagte ich. „Iss ein paar Melonenkerne!“

      „Melonenkerne, immer nur Melonenkerne! Bruder, warum dauern Tag und Nacht vierundzwanzig Stunden?“

      Aus seinen Mundwinkeln tropfte immer noch Schaum, seine Kleider waren völlig durchnässt. Er zog eine andere Zeitung aus einem Hosenbein hervor und ging nach hinten in die Karawanserei. Er ging so, als ob er gerade einen Sieg über mich errungen hätte und ich nicht wüsste, warum Tag und Nacht zusammen vierundzwanzig Stunden dauern. Er dachte über viele solche Dinge nach, und seine Taschen waren voll von Papieren und Zeitungen. Sogar im Hosenbund hatte er welche stecken.

      Er hielt die


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