Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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in sein Inneres fühlte er den Schmerz. Darum trat er auch nur leicht auf. Obwohl er vormittags in der Stadt nach Aidin gesucht, den Volksgarten und den alten Friedhof durchkämmt hatte, fühlte er keine Müdigkeit. Nur die eisigen Füße machten ihm zu schaffen.

      Von dort, wo er gerade stand, brüllte er: „Ssoudji!“

      Doch seine Stimme trug nicht, wurde vom Schnee verschluckt. Und er ging weiter.

      Eines Tages hatte Vater einige von Aidins Büchern mit ins Kontor gebracht. Vom Morgen an zog es ihn immer wieder zu den Büchern, er blätterte darin, aber so viel er las, er konnte nichts verstehen. Er bewahrte die Bücher auf, bis Wachtmeister Ayas in die Kanzlei kam.

      Der sagte: „Djaber, wo brennt’s denn? Hier bin ich!“

      „Ich hab was Wichtiges“, sagte Vater, deutete auf die Bücher und bat: „Schau dir die mal an!“

      Ayas nahm die Bücher in die Hand, warf einen Blick auf die Titel, wog alle drei, eins nach dem anderen, auf der flachen Hand und fragte dann: „Woher stammen die?“

      Er kniff ein Auge zu und wartete ab.

      „Frag nicht!“

      „Lass mich mal sehen, was da steht!“ Und er buchstabierte laut die Titel: „O-d-y-s-s-e-e“.

      Er schaute Vater an: „Woher hast du die?“

      Dann entzifferte er den zweiten Titel: „Der Garten des Epi...kur“. Den dritten las er schon gar nicht mehr. Fragte nur: „Wem gehören die?“

      „Aidin.“

      „Deinem Aidin?“

      Ganz besorgt erwiderte Vater: „Ja, meinem eigenen Aidin.“

      „Um Gottes willen! Um Gottes willen!“, stöhnte Ayas.

      „Ich wollte aus ihm einen beispielhaften Menschen machen. Doch daraus ist nichts geworden.“

      Vater rieb sich die Hände und fragte: „Wo ist denn der Garten des Epikur?“

      „Da liegt der Hase im Pfeffer!“

      „Wo also?“

      „Schlechte Zeiten!“, sagte Ayas. Er verstummte einen Augenblick. Dann neigte er den Kopf dem Vater zu. „Du hast doch davon gehört, dass die Kommunisten einen Park angelegt haben und dort unsere Jugend mit ihren Ideen verführen!“

      Er steckte die Bücher in eine Tüte und ging, ohne wie sonst Pistazien zu essen, wutentbrannt weg. Sagte, dass er sie mitnähme, um sie zu vernichten, meinte, wir sollten gut auf Aidin aufpassen.

      Und Vater sagte: „Gott möge dich uns lange erhalten.“

      An der Tür drehte sich Ayas um und sagte kopfschüttelnd: „Wenn’s auch meinen Kopf kostet, dann war’s für unsere Freundschaft, Bruder.“

      „Was täten wir nur ohne Ayas?“

      Vater setzte sich einen Moment an den Schreibtisch, senkte den Kopf. „Komm, Urhan!“, rief er dann.

      „Wohin?“

      „Wir wollen zu Hause vorbeischauen.“

      Er gab den Lehrlingen eine Aufgabe und ermahnte sie, gut aufzupassen.

      Dann setzte er den Hut auf, und wir machten uns auf den Weg. Niemals ging Vater um diese Zeit nach Hause. Es war zehn Uhr vormittags. Wir schritten eilends aus. Ich wusste nicht, was er vorhatte.

      Als wir daheim angekommen waren, fragte er Aida: „Wo ist Aidin?“

      Aida erblasste. Mit zitternden Lippen sagte sie, sie wisse es nicht. Vater schob sie zur Seite und ging auf das Souterrain zu. Er blieb oben an der Treppe stehen.

      „Urhan!“ Ich sprang vor. „Hol alles rauf, was an Büchern und Heften und Geschreibsel da ist!“

      Ich stieg ins Souterrain hinab. Die Bücher in den Regalen, die Hefte und Bücher und Manuskripte, die unter dem Bett lagen, alles holte ich rauf, nahm es unter den Arm und warf es dort neben dem Wasserbecken zu Boden, wo Vater stand und wohin er mit dem Finger deutete. Aida stand weinend und hilflos am Küchenfenster. Und Vater war so in Rage, dass Mutter sich nicht zu zeigen wagte. Sicher beobachtete sie uns von irgendwoher.

      „Ist das alles?“, fragte Vater.

      „Ja!“

      Vater schüttete Petroleum darüber, und ich zündete ein Streichholz an. Wie die Flammen züngelten, und wie sich die Seiten krümmten! Wie ein Mensch in letzten Todesqualen. Sie bogen sich und wendeten sich, leuchteten golden auf, verfärbten sich braun und wurden schließlich schwarz.

      Vater starrte in das Feuer, schaute ein bisschen genauer hin und sagte: „‚Vater Goriot‘. Urhan, ist das nicht ‚Vater Goriot‘?“

      Ich sah, wie das Buch gerade aufloderte.

      „Doch“, sagte ich.

      „Hab ich’s denn damals nicht zerrissen?“

      „Er hat es sich noch mal gekauft.“

      „Und ich vernichte es noch einmal!“

      Als dann die Flammen in sich zusammengesackt waren, wuschen wir die Asche weg und gingen wieder ins Kontor. Auf den viereckigen Klinkern, mit denen der Hof gepflastert war, blieb aber ein schwarzer Fleck zurück, als ob man dort ein schwarzes Tier mit einer Schaufel plattgedrückt hätte. Aida stand hinter dem Fenster, und ich wusste nicht, was jetzt passieren würde.

      Vater sagte nur: „Jetzt komme, was da wolle.“

      Als Aidin am Abend den Fleck neben dem Wasserbecken sah, blieb er einen Moment dort stehen. Dann ging er voll Angst und Bangen auf das Souterrain zu. Und an jenem Abend kam er nicht wie sonst zum Abendessen herauf. Ich hatte von oben zugeschaut. Er war in sein Zimmer gegangen und hatte sofort wieder das Licht ausgelöscht. Vermutlich hatte er sich schlafen gelegt. Und beim Abendbrot wünschte sich keiner, dass Aidin mit dabei wäre.

      In der Feme erblickte er den grünen Salzsee, und sein Herz fing an zu klopfen. Er wusste nicht, wie ihm diesmal beim Anblick Aidins zumute sein würde. Die Erregung über dieses Wiedersehen und der Schmerz in den eisigen Füßen machten ihn ganz unruhig. Nach ein paar Schritten sah er die Salzpfanne tot und erstarrt unter dem Schnee liegen. Auch der steinerne Sitz an deren Saum war vom Schnee bedeckt. Kein Aidin.

      Der hatte gesagt: „Wie sehr wünschte ich mir, dass sich diese Zugvögel hier am Strande niederließen!“

      „An welchem Strand?“, fragte ich.

      „Siehst du nicht die Meeresvögel?“ Er saß auf seinem steinernen Thron und schaute zum Himmel.

      „Welche Vögel?“

      „Der da mit dem schwarzen Streifen am Hals, das ist der Friedensvogel.“ Über das ganze Gesicht strahlend verfolgte er eine Linie am Himmel.

      Mir war die Lust vergangen. Auch hatte ich das Kontor einfach nur Gottes Schutz anbefohlen.

      „Schon gut“, sagte ich, „steh auf, wir wollen gehen!“

      „Sieh doch, Urhan, voll Inbrunst schlagen sie mit den Flügeln!“

      Langsam ging er mir auf die Nerven. Wenn ich ihn gelassen hätte, hätte er bis zum Abend seinen Hirngespinsten nachgehangen.

      „Hör schon auf, du Vieh!“, sagte ich.

      Seine Miene verfinsterte sich. Er warf mir einen Blick zu.

      „Ich bin ein Mensch, mein Lieber.“

      „Ja, du bist ein Mensch. Ganz recht. Aber jetzt steh auf!“

      Da schaute er nochmals zum Salzsee zurück.

      „Was ich noch sagen wollte, wärst du damit einverstanden, wenn wir ins Wasser gingen?“

      „Schau dir doch die Sonne an! Sie geht bald unter. Wir müssen zurück, bevor es dunkel wird.“

      Damals


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