Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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antwortete der Alte mit rauer Stimme. „Wohin dann?“

      „Nach Ram-Assbi.“

      „Aber doch nicht jetzt!“

      „Jetzt käme ich in die Nacht. Ich warte, bis es wieder hell wird. Dann breche ich auf.“

      Urhan schwieg. Er wollte nicht alleine bleiben und fürchtete, der Alte könnte seine Meinung ändern.

      Er sagte: „Zu dieser Jahreszeit kennen die Wölfe keine Gnade.“

      Der Alte zündete sich wieder eine Zigarette an.

      „Die Wölfe kennen zu keiner Zeit Gnade. Im Dorf haben sie bei helllichtem Tag drei Menschen aufgefressen.“

      Er erhob sich, nahm auch dem anderen Esel den Sattel ab und warf ihn dem anderen gegenüber auf die Erde. Urhan, der bisher im Stall hin- und hergegangen war und immer wieder mal fest aufgestampft hatte, setzte sich und schaute nach draußen. Weiß war es und kalt. Er rieb sich die Hände, löste die Schnürsenkel seiner Stiefel, zog die Füße heraus, schlüpfte aus den Socken und umklammerte die Füße mit den Händen.

      „Ich bin Urhan“, sagte er.

      „Urhan? Welcher Urhan?“, fragte der Alte.

      „Der Bruder von Ssoudji.“

      Der Alte warf ihm einen prüfenden Blick zu.

      „Der Brudermörder?“

      Urhan spürte etwas Kaltes, Spitzes im Rücken. Aber was nützte es, zu widersprechen, zu schreien? So schüttelte er nur wehrlos den Kopf. Dann stöhnte er auf und drückte mit den Händen gegen die Zehenspitzen.

      „Ich handle jetzt mit Trockenfrüchten.“

      „Melonenkerne?“

      „Ja, Trockenfrüchte. - Wie kalt es hier doch ist.“

      Er hatte das Gefühl, als ob die Zehen an den Gelenken auseinanderfielen.

      „Zieh dir den Mantel aus“, meinte der Alte, „und wickle deine Füße ein!“

      „Nein, nein! Ich bin sehr kälteempfindlich und hol mir noch ‘ne Lungenentzündung.“ Der Schmerz war in all seinen Knochen. Er fragte: „Tee hast du wohl auch keinen?“

      Der Alte rauchte schweigend weiter.

      „Gibt’s denn hier gar nichts, womit man ein Feuer anzünden könnte?“, wollte Urhan wissen.

      Wieder gab der Alte keine Antwort. Er steckte sich nochmals eine Zigarette an und zertrat den Stummel der letzten mit dem Fuß.

      „Ich bin jetzt ein Gefangener von Ssoudji“, sagte Urhan. „Den kennst du doch sicher!“

      „Bind ihn doch an!“

      Er konnte die Füße einfach nicht warm bekommen, nicht einmal die Knochenschmerzen lindern, und stöhnte: „Jetzt sind’s dann schon vierzehn Jahre, dass er mich zu seinem Gefangenen gemacht hat. Man kann ihn auch nicht einfach anketten, er ist doch kein Kind, ist zweiundvierzig Jahre alt.“

      „Wirf ihn in ein Zimmer, stell ihm Brot und Wasser rein und schon bist du frei!“

      „Genau das hab ich vor, wenn ich ihn finde. Aber mein Verrückter ist wie ein Vogel: Im Käfig stirbt er, ist er draußen, fliegt er weg. Er ist kein gefährlicher Irrer, tut niemandem was zuleide. Doch zur Welt ist er nur gekommen, um mich zu plagen.“

      Urhan hatte Lust zu reden, war aber nicht sicher, ob ihm der Alte zuhörte. Er fühlte sich erniedrigt und gedemütigt.

      Eine Zeit lang war es uns beiden zur Gewohnheit geworden, dass er weglief, wenn er niedergeschlagen war, und zwei, drei Tage verschwunden blieb. Kam er dann wieder zurück, fragte ich ihn: „Wo warst du denn, mein Freundchen?“

      „Ich war in Mashad*, hab unserem Imam Reza die Füße geküsst.“

      „Was hast du mir als Reisepräsent mitgebracht?“

      „Da gab’s nichts Gescheites, nur Sonnenblumenkerne und diese schlechte Sorte von Aprikosen.“

      „Schon gut. Geh in die Karawanserei! Und treib dich nicht so viel herum, du bringst mich noch um meinen guten Ruf!“

      „Herr Bruder, nach zwei Glas Tee bei Mashd Abbass geht einem wirklich das Herz auf. Kannst du das nicht verstehen?“

      Er füllte sich die Taschen mit Melonenkernen und machte sich davon. Seine Anwesenheit bedeutete mir nichts, aber seine Abwesenheit machte mir großen Kummer. Nachts, wenn er da unten im Souterrain schlief, war ich oben allein. Aber ich wusste, dass er da war. Dass da einer war, dass da unten einer atmete. Insbesondere in diesem Haus, das immer noch nach Vaters regenfeuchter Jacke, nach Mutters schwerem Atem und sogar nach Aida roch. Das alles ertrug ich zwei, drei Tage lang, denn ich wusste, er würde wiederkommen.

      „Wo bist du gewesen, mein Freundchen?“, fragte ich ihn dann mit gerunzelter Stirn und tadelnder Stimme.

      „Ich war in Moskau.“

      „Was war dort los?“

      „Wohin man auch kam, überall wurde gekämpft. Und bei all dem Frost brannte es lichterloh.“

      „Hast du auch mitgekämpft?“, fragte ich

      Er starrte auf die Leute draußen vor dem Kontor. Teils eilends, teils gemächlich schoben sie sich vorbei.

      „Was denkst du“, fragte er mich, „wo kriegen die alle Löffel her?“

      „Gut also“, meinte ich, „was gibt’s Neues vom Krieg? Wie viele hast du umgebracht, wie viele verwundet?“

      „Wir haben eine Frau gefangengenommen. Nachher stellte sich heraus, dass sie eine Hure war. Martha heißt sie. Recht hübsch und nicht ohne! Ich glaube, sie stammt aus Jugoslawien.“

      „Auf welcher Seite hast du denn gestanden?“, fragte ich. „Herr Bruder“, sagte er da, „die haben mich fertiggemacht!“ Er war ganz niedergeschlagen.

      Die beiden Männer starrten stumm nach draußen. Es war, als ob sie jemanden erwarteten.

      „Frierst du denn nicht?“, fragte Urhan.

      „Ich kann es aushalten“, entgegnete der Alte. Er hielt einen Augenblick inne und fragte dann: „Wie bist du denn hergekommen?“

      „Zu Fuß! Hast du keine Zigarette für mich?“

      Die Kälte presste ihm Tränen aus den Augen, und die liefen ihm dann über die Backen. Plötzlich hatte er Lust auf eine Zigarette.

      Er fragte nochmals: „Hast du keine Zigarette übrig?“

      Der Alte öffnete sein Zigarettenetui und hielt es ihm hin.

      „Das hilft gegen das Zittern“, meinte er, und er wartete, bis Urhan sich in diesem ungewissen Dämmerlicht bediente. Während er ein Streichholz anriss, schaute er ihn sich genauer an und bemerkte, dass er ganz gerötete Füße hatte.

      „Bist du nur Ssoudjis wegen hierhergekommen?“, wollte er wissen.

      Die Schmerzen in den Füßen ließen Urhan aufstöhnen, und er nickte nur bejahend mit dem Kopf und war sehr zufrieden, dass er dem Alten so zeigen konnte, wie gern er seinen Bruder hatte. Doch sein Inneres war ganz aufgewühlt. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen, in Kälte und Hitze, wie oft hatte er sich in Gefahr begeben, um Aidin zurückzuholen. Aber jetzt hatte er einen endgültigen Entschluss gefasst: Koste es, was es wolle, er musste die Sache zu Ende bringen. Voll leidenschaftlichen Zorns blies er den Rauch aus. Er merkte nicht, was er da rauchte und dass es schlecht schmeckte.

      Er stand auf, schloss die Stalltür und schaute dann durch die zerbrochenen Flügel hinaus und sagte: „Wir sind hier festgenagelt.“

      Der Alte schwieg. Das schneebedeckte Land lag jetzt in Dunkelheit. Er hatte nicht damit gerechnet, hier festgehalten zu werden.

      „Wo mag er nur geblieben sein, dieser Bruder?“


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