Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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ganze Abfall, die Blätter, alles was unnütz ist, wird von den kleinen Wellen ans Ufer geschwemmt.“ Er tauchte im Wasser unter und redete. Seine glatten schwarzen Haare hingen ihm in die Stirn. Mit jedem seiner kräftigen Stöße glitt er weit hinaus. Das Wasser war salzig und bitter, und wir spuckten immer wieder aus.

      „Mir wird’s allmählich kalt“, sagte ich. „Sieh doch die Sonne an!“ Ich wollte, dass wir nach Hause zurückkehrten. Doch Aidin konnte sich nie losreißen und schwamm nochmals in den Salzsee hinaus.

      Er schaute um sich und erblickte das aus gestampftem Lehm errichtete Gebäude des über dem Salzsee gelegenen Teehauses. Er zweifelte nicht daran, dass Aidin dort war und mit seinen Zeitungen und Papieren auf der Holzbank saß. Seine Zähne sind verfault, er kann nur noch mit Mühe sprechen. Vor mir hat er höllische Angst, und er gehorcht meinen Befehlen wie ein friedfertiges Lamm.

      Damals stand ich vor den angelaufenen Fensterscheiben des Teehauses. Es war Herbst, und ein kalter Wind wehte. Drinnen sah ich Aidin mit gekreuzten Beinen auf einer Holzbank sitzen und in einer Zeitung lesen. Er war ganz ins Lesen vertieft und fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. Vor ihm stand ein leeres Teeglas. Als ich die Tür öffnete, fuhr er zusammen.

      „Was tust du hier, Junge?“, fragte ich.

      „Vater, ich bin hierhergekommen, um die neuesten Nachrichten vorzulesen.“

      Ganz deutlich sah ich das Zittern seiner Hände und das Zucken in seinem Gesicht.

      „Ich bin doch Urhan“, sagte ich lachend.

      „Versuch nicht, mich reinzulegen, Vater!“

      „Wozu bist du hierhergekommen?“

      „Mir war’s so schwer ums Herz. Hab an Aida gedacht. Ich weiß nicht, was aus ihrem Ssohrab geworden ist. So schwer war’s mir ums Herz, Vater!“

      Dann kniff er plötzlich die Augen zusammen und fragte: „Glaubst du wirklich, dass sich Aida selbst verbrannt hat?“

      „Du darfst nicht alles vor den andern ausposaunen“, sagte ich, „und du hättest nicht herkommen sollen.“

      Mashd Abbass, der Wirt dort, meinte: „Herr Urhan, wenn er halt herkommen will, lassen Sie ihn doch. Was stört Sie das?“

      „Die Mühe mit ihm habe ich! Er kommt von alleine nicht mehr zurück. Sooft er hierherkommt, muss ich hinter ihm herlaufen.“

      „Wohin gehen wir jetzt?“, wollte Aidin wissen.

      „Mutter fragt unentwegt: Wo ist mein Aidin? Du weißt doch, dass es ihr nicht gutgeht. Warum quälst du sie da? Warum quälst du mich?“

      „Letztendlich haben diese Zuhälter nicht zugelassen, dass unser Volk eine Nationalregierung bekommt. Verstehst du, Herr Bruder?“

      „Ja, ich versteh‘s“, antwortete ich. „Steh auf und lass uns gehen.“ Und wir machten uns auf den Weg. Damals war Aidin in seinen Dreißigern, aber die Haare an den Schläfen waren ergraut.

      „Ist das nicht seltsam?“, meinte Mutter. „Ist das nicht ungewöhnlich für sein Alter?“

      Draußen wehte ein kalter Wind. Auf dem ganzen Weg zur Stadt zurück redete er ununterbrochen, und ich fragte mich, wann er das alles gelernt hatte. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis und kannte wunderschöne Märchen.

      Aber im nächsten Moment konnte er sagen: „Herr Bruder, ich habe gehört, dass es hier im Schnee viele Rebhühner gibt. Hättest du einen Sack mitgebracht, hätte ich dir hundert gefangen.“

      „Jetzt gibt’s doch keinen Schnee!“, meinte ich. „Bis zum Winter ist’s noch lange hin.“

      „Doch, doch. Da ist doch welcher. Du siehst ihn nur nicht. Voll von Rebhühnern. Dort auf dem Berg da!“

      „Meinetwegen“, sagte ich. „Was willst du damit anfangen?“

      „Weiß ich nicht!“ Und er blieb stehen, in den Anblick der Berge versunken, die die untergehende Sonne violett gefärbt hatte. Langsam ging er mir auf die Nerven. Auch war ich schrecklich hungrig.

      „Red nicht so viel!“, sagte ich. „Komm schon, sonst hau ich...“

      Darauf sprach er kein Wort mehr. Wie ein Kind lief er hinter mir drein. Und wir ließen den eingesunkenen Lehmbau des Teehauses hinter uns.

      Die Dämmerung war hereingebrochen. Er freute sich schon darauf, sich im Teehaus aufzuwärmen. Wie er so darauf zuging, rieb er sich die Hände. Er versuchte, mit den Füßen auf den Boden zu stampfen und in die Hände zu hauchen, aber all das nützte nichts. Er musste dorthin gelangen; in der angenehmen Wärme neben dem Samowar* würde er es sich bei zwei Glas Tee mit Zucker wohl sein lassen und Kälte und Müdigkeit vergessen. Er stapfte weiter. Bei jedem Schritt sank er ein. Vor der Tür des Teehauses blieb er stehen.

      „Komisch!“, sagte er leise.

      Die Fensterscheiben waren zerbrochen, und bis halb in die Teestube hinein lag Schnee. Kein Samowar, keine Sitzbänke, auch nicht das geringste Anzeichen von Leben. Nichts! Es war wie eine verlassene Leichenwäscherei, wo die Aasfresser sich wegen des Geruchs, der noch an den Mauern hing, niedergelassen hatten. Die Wände waren mit Kohle bekritzelt. Über einer Plattform im Hintergrund der Teestube zogen sich die schwarzen Rauchspuren eines großen Brandes bis hinauf unter die Decke. Auf der rechten Seite häuften sich die Trümmer der eingestürzten Decke. Auf dem Sockel für den Samowar lag das Skelett eines Tieres und machte klar, dass Raubtiere bei ihrem Fraß dort oben gestanden hatten. Vielleicht hatte ein Wolf im Winter vor den hungrigen Augen seiner Jungen jenes Tier gerissen und dann dort oben in aller Ruhe die Knochen so abgenagt, dass man hätte meinen können, sie seien mit einer Feile bearbeitet worden.

      Urhan sah sich um. Nein, keine Spur von Aasfressern. Er wandte den Kopf. Wozu also war er hierhergekommen? Was sollte er jetzt tun? Plötzlich hörte er einen Ton. Er lauschte; etwas bewegte sich. Er hörte noch genauer hin. Es war das Geräusch eines Tieres. Von Angst erfüllt ging er leise um das Teehaus herum. Jetzt hörte er deutlich ein Pferd wiehern. Quietschend öffnete sich die Stalltür, und da erschien ein verhutzelter alter Mann, der eine Pelzmütze trug. Wie auf einem altertümlichen Gemälde. Ganz mechanisch nahm Urhan die Mütze ab und hielt sie zwischen den Händen. Er fühlte, dass etwas Geisterähnliches seine Beine heraufkroch, seinen ganzen Körper durchzog und ihn durch den Kopf wieder verließ. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, die Knie wurden ihm weich, sein Blick war wie gebannt, bis sich der Alte bewegte. Jetzt spürte er das schnelle Schlagen seines Herzens.

      Er fragte: „Wer bist du?“

      „Dieser Schnee hat uns alle untergekriegt“, meinte der Alte.

      Urhan trat einen Schritt vor.

      „Man muss wirklich zäh wie Leder sein.“ Und er musterte den Alten von oben bis unten. Er trug einen Stutzer und an den Beinen schwarze, bis zu den Knien reichende wollene Wickelgamaschen.

      „Wir sitzen hier fest“, sagte der Alte und trat zur Seite.

      Urhan ging in den Stall hinein. Noch vor der Tür stampfte er kräftig auf. Der Schnee fiel von seinen Füßen und von seinen Mantelschößen ab.

      „Feuer“, sagte er, „hast du denn kein Feuer angemacht?“ Er schaute überall herum. Es war dunkel, und es roch nach Tieren.

      „Hast du keins angezündet?“

      Ganz verwundert schaute ihn der Alte an. „Womit?“

      Urhan zitterte. Die Beine schmerzten ihn und die Feuchtigkeit war ihm unter die Kleider gekrochen. Er hatte Mühe, seine Gedanken zusammenzuhalten.

      Er sagte: „Hier war doch ein Teehaus. Oder nicht?“

      Der Alte setzte sich auf einen Saumsattel. „Ich weiß es nicht.“

      „Doch! Hier war ein Teehaus. Nachdem Mashd Abbass krank geworden war, ging es immer weiter bergab damit. Wer war noch der Pächter?“

      Er schaute sich um. Da hinten standen ein Pferd und zwei Esel dicht aneinandergedrängt;


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