Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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kann nicht immer so, wie man möchte“, meinte ich. „Mutter fragt von morgens bis abends nach ihrem Aidin. Sie möchte ihn zurückholen. Ab und zu geht sie ihn auch besuchen.“

      „Was fällt ihr ein!“, knurrte Vater. „Wer hat ihr das erlaubt?“

      Seit Aidin von zu Hause weggegangen war, war ein Jahr vergangen. Oben am Fluss, in Ram-Assbi, arbeitete er in einem Holzsägewerk. Er war mager geworden, war sehr gealtert, aß nichts Gescheites, hatte sich aber in den Kopf gesetzt, unabhängig zu sein und nicht mehr in sein Elternhaus zurückzukehren. Jener Brand hatte ihn sehr getroffen. Als hätte man ihn selbst verbrannt. Und er war auch wie ausgebrannt. Er durch den Fluch des Vaters und Vater durch den Fluch der Natur.

      Am Tage nach jenem Ereignis stand in der Zeitung, der „Sonne des Orients“, folgendes geschrieben: „Gestern gegen 12:30 Uhr verfinsterte sich die Sonne plötzlich so, als hätte eine Riesenhand ihr Gesicht bedeckt.“ Dieser Satz blieb in unserem Gedächtnis haften.

      An jenem Tag war die Sonnenscheibe total verfinstert, und es war Nacht geworden. Vater, der noch nicht zu Mittag gegessen hatte, glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er einen Blick auf die Uhr warf und die Zeiger an der zu erwartenden Stelle sah. Angstvoll fragte er: „Urhan, ist es denn schon Abend?“

      Ich wusste nicht, was da vor sich ging. „Oh heiliger Abu-l-fasl!“, stieß ich hervor und rannte hinaus. Es wurde immer noch dunkler, und da ertönten auch schon die Sirenen der Ventilatorenfabrik Lord, die das Ende der Arbeitszeit ankündigten. Jetzt war ich ganz sicher, dass die Nacht angebrochen war, denn die Ventilatorenfabrik Lord hatte sogar während des Krieges niemals die Arbeit unterbrochen, nicht einmal in der Zeit nach dem Shahriwar* 1320 , wo sich die Leute wegen eines Stücks Brot gegenseitig umbrachten. Aber jetzt kündeten die Sirenen das Ende der Arbeitszeit an. Von den Straßen und Gassen her hörte man das Getümmel der Leute, und einige fingen damit an, auf den Dächern gegen Kupferkessel zu trommeln.

      Auch Vater war in den Hof herausgekommen und stand nun neben mir und Mutter. Ohne die Augen mit der Hand abzuschirmen, schauten wir in die Sonne. Mutter weinte. Wie des Öfteren gab sie vor, sich nach Aida zu sehnen, die in Abadan lebte, und vergoss so ihre Tränen.

      Die Sonne war zu einer blutigroten Scheibe geworden, und schwarzer Dunst bedeckte ihre Umgebung. Damals sah ich zum ersten Male Angst bei Vater. Alles war nun in Finsternis getaucht. Von draußen drang ein entsetzliches Gelärme an unser Ohr.

      Mutter murmelte Gebete und weinte betrübt vor sich hin. Benommen und verdrossen betrachtete ich den Himmel, der plötzlich mit Sternen übersät war. Noch nie hatte ich nachts so viele Sterne gesehen.

      Noch einmal rief ich aus: „Oh Abu-l-fasl!“

      Vater unterbrach sein Gebet: „Das ist eine Strafe Gottes! Wisst ihr, was das bedeutet?“

      Er drehte seine Handflächen nach oben, „Klebt denn Blut an unseren Händen?“, fragte er mit fiebriger Stimme.

      „Gott behüte uns!“, murmelte die Mutter.

      „Das ist unser Werk“, sagte Vater, „unseres und das unserer Kinder. Oh Gott, lass das nicht zu! Lass das nicht zu!“

      Kurz darauf verstummte der Lärm auf den Straßen, und Finsternis und Stille senkten sich über die Stadt, als wäre sie seit Jahren ausgestorben. Als hätte die Stadt nie existiert. Mutter zündete die Petroleumlampe an und stellte sie im Zimmer auf den Sims. Keiner von uns wagte es, den Raum zu verlassen.

      „Wo ist bloß Aidin?“, fragte Mutter.

      „Der soll bleiben, wo er ist!“, brummte Vater.

      Mutter machte sich Sorgen. Als es kurz danach im ganzen Haus nach angebranntem Essen roch, schlug sie sich auf die Knie und rief: „Das ist meine Schuld!“

      Sie rannte in die Küche, Vater mit der Lampe in der Hand hinterher. Er stand in der Küchentür und sagte: „Das ist der Lohn unserer Taten. Was haben wir nur getan?“

      Ich sah, dass seine Hände zitterten und sein Gesicht tränenüberströmt war. Ich nahm ihm die Lampe aus der Hand.

      „Wir leben jetzt an einem Ort“, sagte Vater, „wo sich direkt unter unseren Füßen ein Lager ketzerischer Bücher befindet. Unser eigener Sohn hat jedes gotteslästerliche Buch, das er auftreiben konnte, in das Souterrain geschleppt. Dichter ist er auch geworden. Es fehlt nur noch, dass er sich ein Musikinstrument unter den Arm klemmt und zum Straßenmusiker wird. Aber das werde ich nicht so einfach hinnehmen.“

      Er krempelte sich die Ärmel hoch. „Wir müssen das Gebet zur Abwehr von Naturkatastrophen sprechen.“

      Wir gingen ins Zimmer zurück und beteten.

      Die Finsternis dauerte anderthalb Stunden. Und wir zitterten diese ganzen anderthalb Stunden. Dann dämmerte es. So wie nach Sonnenuntergang oder vor Sonnenaufgang. Die Sonne begann wieder zu strahlen, und es wurde heller Tag. Mit einer Kopfbewegung bedeutete mir Vater, ihm zu folgen. Wir traten auf den Hof. Mutter stand auf der Veranda, ebenso verwundert wie ich.

      „Warum geht ihr nicht ins Kontor?“, fragte sie. „Ihr seid wohl ganz aus dem Häuschen?“

      Weil Vater schwieg und es immer noch nach angebranntem Essen roch, zog Mutter es vor, sich mit irgendetwas zu beschäftigen und sich unsichtbar zu machen.

      „Hol den Teppich und die Kleider aus dem Zimmer raus!“, befahl Vater.

      Ich rollte den Teppich zusammen und schleppte ihn herauf. Dann warf ich Aidins Kleider auf die Veranda und wollte noch schnell das Bettzeug herausholen, aber Vater meinte, es müsse auch noch etwas da sein, was brenne. Allerdings hatte er gar nicht gesehen, was es da gab. Nachdem wir das letzte Mal die Bücher verbrannt hatten, war es jetzt wieder überall voll von Büchern und Heften: unter dem Bett, auf dem Wandbrett, neben der Treppe und in den Ecken. Aidin schrieb Gedichte und stand in Verbindung mit anderen Dichtern.

      „Gieß Petroleum darüber!“, ordnete Vater an.

      Ich holte die Kanne raus und übergoss alles sorgfältig. Dann versuchte ich noch schnell, das Bett herauszuziehen, doch Vater ließ das nicht zu.

      „Zünd ein Streichholz an!“, sagte er. Und ich hab‘s getan.

      Als Mutter herauskam, war es schon zu spät. Zur Tür und zum Fenster des Souterrains schlugen die Flammen heraus. Und irgendetwas verbrannte unter schrecklichem Getöse. Mutter wollte noch was unternehmen, sie fuchtelte mit den Händen herum, brachte aber kein Wort mehr heraus.

      „Es ist die Seele des Teufels, die da brennt!“, sagte Vater.

      Wirklich, auch die Seele des Teufels hätte beim Brennen nicht so viel Krach und Rauch machen können. Die Hitze war auch noch jenseits des Wasserbeckens zu spüren, und der Qualm stieg zum Himmel. Ein paar Nachbarn klopften an unserer Tür und fragten, was es mit dem Rauch auf sich habe.

      „Wir kochen Tomatenmark ein“, sagte Vater.

      Ich hatte gedacht, Aidin würde auf der Stelle einen Herzschlag kriegen, wenn er das sehen würde. Aber ihm passierte gar nichts. Gegen Abend kam er zurück. Das Haus lag in kummervollem Schweigen versunken. Als ob jemand gestorben wäre und alle das Geheimnis dieses Todes voreinander verbargen. Aidin legte ein Paket Bücher, das er in der Hand trug, auf den Treppensims und wollte sich im Wasserbecken die Hände waschen. Doch nach ein paar Schritten sah er das Souterrain, grauenhaft dunkel und schwarz. Der Brandgeruch lag noch in der Luft. Wir schauten alle drei von oben zu. Aidin ging auf sein Zimmer zu, doch an der Treppe angekommen, konnte er sich nicht mehr aufrecht halten. Arme und Beine zitterten ihm, und ein Schauer lief über seinen ganzen Körper. Dann ging er weg, ohne ein Wort zu sagen und ohne jemanden sehen zu wollen.

      Vater stand stumm. Er hatte nicht geglaubt, dass es so weit kommen würde. Nachdenklich ging er im Zimmer umher.

      „War es das, was du wolltest?“, fragte Mutter und weinte.

      „Was ist denn schon passiert?“, meinte Vater. „Ich hab’s doch seinetwegen getan. Du siehst doch, in was für schrecklichen Zeiten wir leben. Wegen nichts und wieder nichts


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