Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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      Urhan senkte den Kopf. Er wollte nicht hören, was der Alte da sagte.

      „Vater“, fragte ich, „vor wem ist denn Aidin weggelaufen?“

      „Lauf du doch auch weg“, sagte er. „Geh schon! Geht doch alle zum Teufel!“

      „Ich will nicht weglaufen, ich bin nicht so wie Aidin und Aida. Heute ist doch Freitag. Ich möchte nur mit meiner Clique zum Salzsee!“

      „Und wer soll sich um die Abrechnungen im Kontor kümmern?“

      „Lass ihn doch gehen!“, sagte Mutter. „Es ist ja nicht Aidin oder Aida, die einfach den Mund nicht mehr aufmachen. Mit dem wirst du ja noch fertig!“

      „Die sind doch alle aus dem gleichen schlechten Holz geschnitzt“, meinte Vater.

      Mutter nahm Vater die Pfeife weg und legte sie aufs Wandbrett. „Was immer auch sein mag, dieser da ist dir nachgeraten. Außerdem – man raucht doch nicht von früh bis spät!“

      Dann stemmte sie die Hände in die Hüften, oben im Zimmer war’s, und sagte ganz aufgebracht zu mir: „Geh schon! Worauf wartest du denn noch?“

      Wir fuhren in einem Kombiwagen mit hölzernem Aufbau. Die Leute hier in der Stadt erinnern sich auch heute noch an dieses schreckliche Jahr. Wir waren vierzig. Ein paar der Kumpels waren Soldaten. Wir sangen und klatschten in die Hände. Zuerst stimmten wir die Fahnenhymne an, dann „Draußen in dunkler Winternacht“. Unterwegs, in einer Straße ganz am Rande der Stadt, hatte ein Haus Feuer gefangen. Qualmende Flammen schlugen aus den Fenstern heraus. Unser Fahrer hielt an, und wir sprangen alle aus dem Wagen heraus. Der Eigentümer des brennenden Hauses war ein alter, weißhaariger Herr, der sich mit beiden Händen auf den Kopf schlug und brüllte. Mal stand er vor dem Haus, mal setzte er sich hin, dann rannte er hin und her, kam wieder zurück, starrte in die Flammen und schlug sich auf den Kopf. Später erfuhren wir, dass er weder Frau noch Kinder hatte. Er hat sich aber fast umgebracht. Acht Wasserschläuche waren von allen Seiten auf das Haus gerichtet, und die Straße war ganz von schwarzem Schlamm bedeckt. Das Feuer hatte sich so schnell vorgefressen, dass nichts mehr von dem Haus übrigblieb. Als dann das Dach einbrach, erlosch auch das Feuer.

      Auch das Mal zuvor, bei jenem großen Brand, hatte niemand den Flammen Einhalt gebieten können. Ein irrsinniges Feuer hatte einen Teil des Basars ergriffen, und eine schwarze Rauchsäule stieg gen Himmel. Alle Bewohner der Stadt starrten auf den Qualm, und niemand konnte etwas unternehmen. Der Strom war ausgefallen, und die Nachtwächter im Basar schossen mit Platzpatronen in die Luft, um Hilfe herbeizuholen. Laut schreiend rannten Leute umher. In jener Nacht floss in den Straßengräben nicht wie sonst Wasser. Soweit man sehen konnte, waren die Straßen voll von Leuten, die mit Laternen zum Basar strömten.

      Vater war voller Angst. Er zitterte, nahm Aidin und mich fest an der Hand und betete ohne Unterlass. Der Wind hatte das Feuer zwar nicht bis zur Karawanserei vorgetrieben, es breitete sich jedoch im Basar weiter aus und war nicht mehr zu bändigen. Wir standen an einer Ecke des „Neuen Platzes“ und schauten nur zu – genau wie all die anderen. Damals hatte die Stadtverwaltung keinerlei Möglichkeiten zur Brandbekämpfung, und der Wind trieb die Flammen immer weiter.

      So brannte der Basar bis zum Morgen. Und bis zum folgenden Abend loderten immer wieder neue Brandherde auf. Der ganze Teil des Basars, wo sich meist Konfiserien und Konditoreien, aber auch zwei Zuckerfabriken befanden, war abgebrannt. Als schließlich die Mauern einstürzten und so viele wirtschaftlich ruiniert waren, erlosch das Feuer allmählich ganz von selbst. Aber noch nach drei Tagen lag dunkler Rauch über der Stadt, der so dicht war, dass ihn der Wind nicht wegblasen konnte. Tags darauf fiel süßer Regen, und die Leute stellten Schüsseln und Wannen auf, um ihn aufzufangen. Als wir davon hörten, hatte der Regen schon aufgehört. Unsere Haare und Kleider waren klebrig, und was wir anfassten, blieb an unseren Händen haften. Vater schleckte sich die Hände ab und meinte: „Sharbatt*!“

      Eine ganze Weile floss aus den Hydranten Sharbatt statt Wasser. „Ich möchte Wasser!“, bat ich.

      Ich hatte entsetzlichen Durst, doch soviel ich auch von diesem Zuckerwasser trank, er ließ sich nicht stillen.

      „Trink Sharbatt!“, sagte Vater, „Woher soll ich denn Wasser nehmen?“

      „Von irgendwoher wirst du’s doch besorgen können!“

      „Was sagst du da bloß?“, meinte Vater. „Jetzt pissen sogar alle süß!“

      Dann verlor das Wasser seine Süße, Aida verbrannte sich selbst, Vater war gestorben und Aidin erledigt. Nur ich war übriggeblieben – und die Mutter, die in ihren weißen Betttüchern lag und röchelte, in einem fort röchelte. Sie hatte Asthma. Oft meinte ich mitten in der Nacht, jemand feile da an etwas Hartem herum. Aidin hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt, in den Adern an Hals und Schläfen pochte es schnell, und unter den Augen sah ich es zucken.

      „Sag mal, mein Lieber“, fragte die Mutter, „wer hat dir das angetan?“

      Und Aidin entgegnete: „Das Feuer des Krieges ist in der Kälte von Moskau erstickt.“

      Wie Recht er doch hatte! All die Brände mit ihren Flammen und ihrem Rauch, den Menschenopfern und Sachschäden sind schließlich ganz von selbst erloschen. Aber sie haben lauter Ruinen zurückgelassen. Alle erinnern sich daran, dass wir vierzig waren und dass ein paar der Kumpels Soldaten waren. Nachdem das Feuer gelöscht war, stiegen wir wieder in den Kombiwagen mit seinem hölzernen Aufbau und den hölzernen Sitzen, der uns auf der schlechten Schotterstraße schlimm durcheinanderrüttelte. Gerade als wir abfuhren, kam laut hupend ein roter Feuerwehrwagen an. Doch da war es zu spät: Von dem Haus war nur ein Häufchen Asche übriggeblieben.

      Singend und in die Hände klatschend machten wir uns auf den Weg. Noch einmal stimmten wir die Fahnenhymne an. Am Ufer des Salzsees stellten wir uns nach altem Brauch in Reih und Glied auf, und als ich „drei“ rief, sprangen wir alle gemeinsam von den Klippen mit einem Kopfsprung ins Wasser. In den Kleidern. Wir schwammen einmal bis zu dem Schilfgürtel und zurück. Das Wasser war kühl, und es wehte eine leichte Brise. Dann erblickten wir das Schiff, das von Osten auf uns zugefahren kam. Es war leer bis auf einen Mann in einem schmutzigweißen Unterhemd, der vorne am Steuer stand. Er schien gleichzeitig auf uns und auf das Tuckern des Schiffes zu achten.

      Als er das Ufer erreichte, rief er uns zu: „Wollt ihr nicht mitfahren?“

      Wir brüllten wie aus einem Mund: „Hurra!“, und hängten uns von allen Seiten an den hölzernen Schiffsrumpf. Es roch nach Lack und Farbe. Bei jeder Bewegung knarrte es, als ob die Flanken auseinanderbrechen wollten. Wir freuten uns darüber, dass es nun auf dem Salzsee auch ein Schiff gab, und beschlossen: Jede Woche zum Salzsee. Hurra! Doch hatte keiner von uns bisher das Schiff gesehen und keiner kannte den Eigentümer. Niemand wusste, wann und woher er gekommen war. Es war ein älterer Mann mit einem unsicheren Lachen. Wie einer, der zum ersten Mal hinter dem Steuer sitzt.

      „Ich habe vier Kinder“, sagte er, „das Leben ist teuer.“ Jetzt lachte er, strahlte von einem Ohr bis zum anderen.

      Nachdem wir uns alle aus dem Wasser in das Boot hochgezogen hatten, tuckerte es los und entfernte sich vom Ufer. „Kommt nur jeden Tag!“, meinte der Schiffer.

      „Wir kommen jeden Tag“, antwortete ich. „Gib Gas!“

      Es war das erste Mal, dass ich auf einem Schiff fuhr. Meine Kleider waren völlig durchnässt. Das Schiff schlingerte ganz seltsam und als wir die Mitte des Sees erreicht hatten, fühlte ich es sinken. Die Jungs brüllten und drängelten hinaus. Jetzt tauchte das Schiff auf der Motorseite unter und überschlug sich. Wie ein Berg wölbte es sich über uns und ging, so umgekippt, unter.

      Wir brüllten dort unten im Wasser und versuchten hochzukommen. Doch der schwere Schiffsrumpf schlug gegen unsere Köpfe, und wir wurden wieder nach unten gedrückt. Ich schaute nach oben. Es war dunkel. Ich musste unbedingt unter dieser Überdachung da hervorkommen. Mit beiden Armen durchpflügte ich in der Tiefe das Wasser und versuchte, mich von dem Schlamm fernzuhalten. Als es heller wurde, arbeitete ich mich nach oben. Auf dem Grund sah ich den Schiffer, der bis zur Hüfte im Sumpf steckte. Seine


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