Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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      Doch einer schien mich am Hosenbein festzuhalten. Da sah ich ihn im Wasser: Es war Djamshid der Besenstiel, einer der Soldaten. Er schluckte Wasser und zog an mir. Bis zu den Schultern war er im Schlamm versunken. Seine goldenen Schulterklappen glänzten. Er zog und ich wehrte mich. Plötzlich kam mir die Idee, den Gürtel zu öffnen. Ich öffnete ihn und war frei.

      Damals war ich zwanzig Jahre alt. In einer violetten Unterhose kam ich nach Hause zurück. Es war ein schrecklicher Tag und noch eine ganze Zeit lang hatte ich den bittersalzigen Geschmack des Wassers im Mund. Auch heute noch erinnern sich die Leute daran, dass wir vierzig waren. Die Mutter von Djamshid Besenstiel sagte zu mir: „Du bist zwar am Leben geblieben, aber Glück wird dir das nicht bringen!“ Der Fahrer des Kombiwagens dagegen meinte: „Auf diesem Urhan liegt Gottes Segen. Den müsst ihr zu schätzen wissen!“

      Und Mutter sagte: „Komm, damit du vor zukünftigem Unheil geschützt bist!“ Sie holte einen neuen, noch nicht gewaschenen Stoff, führte ihn von meinen Füßen an meinem Körper entlang nach oben, dann über den Kopf und auf der anderen Seite wieder hinab. Dann schnitt sie dieses Stück ab und schenkte es einem Bettler. Es war eine schlimme Zeit. In allen Gassen nur Trauer und Totenfeiern. Froschmänner aus Astara durchsuchten drei Tage lang den Schlamm auf dem Grunde des Salzsees. Das Wrack des Schiffes konnten sie bergen, aber von den Ertrunkenen fanden sie keine Spur.

      „Hast du Fieber?“, fragte der Alte. Er legte Urhan die Hand auf die Stirn. „Du bist heiß, aber Fieber hast du nicht. Pass auf dich auf!“

      Er zündete zwei Zigaretten an und gab eine Urhan in die Hand. „Wenn wir bis zum Morgen nicht erfrieren, sterben wir nie mehr!“

      „Ja“, sagte Urhan nur.

      „Warum bist du bloß so spät aufgebrochen, dass dich die Dunkelheit überrascht hat?“

      Die beiden konnten einander nicht sehen. Nur zwei glühende Zigaretten kreisten in der Luft und leuchteten ab und zu auf.

      „Wenn Ssoudji nicht zu Hause ist, kommt man fast um vor Einsamkeit!“

      „Ich hab deinen Namen schon früher gehört. Brudermörder!“, sagte da der Alte.

      Urhan schwieg. Der Alte war jetzt richtig in Fahrt gekommen. „Hast du denn deinen Bruder umgebracht?“, fragte er.

      „Die Leute sagen so vieles!“ Urhan wollte jetzt nichts mehr hören. Er zertrat die erst zur Hälfte gerauchte Zigarette und steckte den Kopf zwischen die Beine.

      Wenn ich später darüber nachdachte, fiel mir immer ein, dass jener magere und lang aufgeschossene Soldat Djamshid war, den wir „Besenstiel“ nannten. Er hatte sich an meinen Hosenbeinen festgeklammert und wollte mich mit sich nehmen. Er war doch mein Freund gewesen, und ich weiß nicht, warum er mir das antun wollte. An einem Freitagnachmittag, als das Kontor geschlossen war, waren wir zum Akhawan-Garten gegangen. Das war ein Garten ohne Tür und Tor, den ein paar Jahre später der Staat vereinnahmte; sie pflanzten neue Bäume, fällten die alten Kiefern und Platanen, legten einen Rasen an, stellten ein paar Rutschbahnen, Schaukeln und Wippen für die Kinder auf, zogen elektrische Leitungen und nannten das ganze „Volkspark“. Damals aber war der Akhawan-Garten noch der Akhawan-Garten gewesen, mit eingestürzten Mauern, deren Ziegelsteine geklaut wurden. Mit Bergen von Abfall und Myriaden von Mücken und Fliegen.

      Wir waren noch keine vierzehn Jahre alt, lungerten an der Gartenmauer herum und statteten den Eisverkäufern und Flötenschnitzern einen Besuch ab. In der Dämmerung fielen Scharen von Raben ein und stürzten sich auf die mit stinkendem Unrat gefüllten Mülltonnen. Und wir strolchten herum. Ich kratzte mit dem Absatz über den Boden und wirbelte Staub auf. „Warum gibst du denn keine Ruhe, Kleiner?“, fragte Aidin. Aber ich scharrte weiter. Da kam plötzlich eine schwarz angelaufene Münze zum Vorschein. Ich stieß sie mit dem Fuß weg, sie rollte ein Stückchen und blieb dann im Schatten einer Weide liegen. Djamshid sprang vor und hob sie auf. Wir lachten.

      „Wer möchte diese Münze?“, fragte er.

      Wir wollten sie nicht haben. Wir hatten noch keine solche Not kennengelernt, dass uns eine schwarz angelaufene Münze gekümmert hätte.

      „Ich glaube, es ist ein Zwei-Rial*-Stück“, meinte Djamshid.

      „Warum steckst du es dir nicht einfach in die Tasche?“, fragte ich.

      „Bei uns zu Hause liegen noch größere Geldstücke rum, keiner nimmt sie.“

      „Bei uns zu Hause liegt zwar kein Geld rum“, sagte ich, „aber Gottes Segen möge immer auf Vaters Verdienst liegen!“

      Aidin schaute uns an und lachte. Er freute sich über meine Schlagfertigkeit. Er sagte immer: „Es gefällt mir, dass du dir nichts gefallen lässt!“

      „So reich ihr auch sein mögt“, meinte Djamshid, „ich glaube nicht, dass ihr es mit uns aufnehmen könnt.“

      Er warf die Münze in die Luft, ich schnappte sie mir und spielte damit herum. Sie fühlte sich dicker an als ein Zwei-Rial-Stück. Ich wusch sie an einem zementierten Hydranten, der immer lief, doch sie ließ sich nicht säubern. Ich scheuerte sie auf der Erde und hielt sie wieder unter das Wasser.

      „Wir haben drei Gärten“, erklärte jetzt Djamshid. „Du brauchst drei Tage, um ans andere Ende zu kommen.“

      Ich war ganz mit der Münze beschäftigt und sah nun, dass sie golden glänzte. Es war ein Pahlawi*. Ich fasste sie mit zwei Fingern und zeigte sie Djamshid und Aidin.

      „Ist das Gold?“, fragte Aidin.

      „Die gehört mir!“, rief nun Djamshid.

      Er war lang aufgeschossen und mager. Mit einer gebogenen Nase und einem Mund, der immer gespitzt war, als wollte er „du“ sagen. Und wir nannten ihn „Djamshid Besenstiel“.

      Wie eine Giraffe sprang er vor: „Ich hab sie zuerst aufgehoben.“

      „Hättest sie halt eingesteckt!“, sagte ich.

      „Die gehört mir!“

      „Was dir gehört, ist in deiner Hose drin!“

      „Ich hab sie gefunden!“

      „Hättest du sie halt behalten!“

      Wir fielen übereinander her. Doch wohin ich auch schlug, ich traf nur auf Knochen.

      „Man streitet doch nicht um Geld!“, mischte sich Aidin ein. „Teilt‘s euch doch!“

      „Warum das?“, meinte ich. „Dem werde ich einen Dreck geben!“, und wir kehrten nach Hause zurück. Abends traf ich Djamshid, der sich in der Umgebung der Ventilatorenfabrik Lord nach unserem Haus erkundigte.

      „Was suchst du hier, Besenstiel?“, fragte ich ihn.

      „Ich wollte nur sagen – gib mir doch die Münze!“

      „Und warum?“

      „Weil wir arme Leute sind. Mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben, und meine Mutter arbeitet in einer Bonbonfabrik.“

      „Na ja, dann verkauft doch euren Garten und lebt von dem Erlös!“

      „Gut also, wir haben keinen Garten.“

      Ich war zu klein, um ihm ins Gesicht schlagen zu können, und boxte ihn in den Bauch. Als er zusammensackte, gab ich ihm noch ein paar Ohrfeigen. Seine Augen hatten allen Glanz verloren und er begann zu weinen.

      „Warum haust du mich denn?“, fragte er.

      „Du Schweinekerl, warum hast du gelogen?“

      Daraufhin kam er öfter zu uns, und wir gingen zusammen weg. Nach der Münze aber fragte er nicht mehr. Später wurde er eingezogen und an jenem Freitag fuhren wir zusammen zum Salzsee. Bei dem Schwimmwettbewerb war er unter vierzig der letzte und nachher versuchte er, auf diesem ganz und gar untauglichen Schiff auf das Kajütendach zu klettern. Und die Froschmänner von Astara konnten ihn nicht finden.

      Djamshid war mein einziger Freund. Zur Trauerfeier für seinen


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