Symphonie der Toten. Abbas Maroufi

Symphonie der Toten - Abbas Maroufi


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Stimme erinnerte einen an das Zerreißen eines Stoffes.

      „Mutter“, sagte ich, „reg dich nicht auf! Heute Abend noch find ich ihn. Ich versprech’s dir.“

      „Kannst du denn nicht verstehen? Wo ist Aidin jetzt?“, entgegnete sie.

      Er war hinter der Anushirawan-Schule. Dort spielte ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind auf einer Maultrommel, und er hörte zu. Der Speichel lief ihm aus dem Mund.

      „Was tust du hier, du Ungeheuer?“, fragte ich.

      „Ich bin nur einfach so hierhergekommen.“

      „Was fällt dir bloß ein? Das war aber das letzte Mal! Los, komm schon!“, ereiferte ich mich.

      Mutter war nervös und voller Unruhe. Zitterig und knochig. Sie packte mich fest am Jackenärmel.

      „Wo ist er? Bist du denn taub?“

      „Sicher läuft er einfach so herum, hinter der Schule, zum Teehaus, zum Akhawan-Garten“, meinte ich.

      Das Weinen hatte sie ein wenig beruhigt, doch ihre Stimme bebte: „Er ist doch kein Kind mehr. Er ist neunundzwanzig Jahre.“

      „Als ob ich meinem Bruder etwas Schlechtes wünschte!“, sagte ich. „Das tue ich doch nicht. Warum schiebst du mir immer an allem die Schuld zu?“

      Sie streckte sich in ihrem Bett aus und zog das weiße Leintuch bis über die Brust hoch. So fest hatte sie das Tuch mit ihren Händen gepackt, als würde sie mich zerdrücken.

      „Ich weiß nicht, was du ihm angetan hast“, sagte sie. „Auf jeden Fall aber befehl ich dir, gut auf ihn aufzupassen. Er verlangt doch nichts von dir. Nur ein Stückchen Brot und einen Platz zum Schlafen.“

      „Mutter, um Gottes willen, sag das nicht! Sprich nicht immer so!“ Und ich weinte.

      „Dann verkauf doch was. Nimm seinen Anteil und bring ihn irgendwohin!“

      Am liebsten hätte ich Vaters Testament aus der Tasche gezogen und es ihr laut vorgelesen. Aber das ging natürlich nicht.

      So sagte ich: „Mutter, ich versprech’s dir, ich bring ihn nach Teheran oder ins Ausland. Ich komm auch für die Unkosten auf. Ich muss nur noch einiges regeln, dann ..., ich versprech’s dir!“

      Vater hatte in seinem Testament offiziell festgelegt, dass keiner seiner Erben das Recht habe, zu Lebzeiten den Besitz oder einen Teil des Besitzes an einen Dritten zu veräußern.

      Abgesehen davon, was für eine Hinterlassenschaft war das schon? Einmal das Eigentum an einem Geschäft in der Passage des Basars der Trockenfruchthändler in der Karawanserei, ein Wohnhaus auf einem Grundstück von 480 m2 in der Lord-Gasse Nr. 3, einer Seitenstraße der Sheikh-Ssafiy-od-din Ardebili-Straße, und ein 1240 m2 großer Aprikosengarten nördlich von Sardab*. Und diesen Aprikosengarten hatte er auch noch Mutter überschrieben, um ihr nichts schuldig zu bleiben.

      Mutter drückte ihr Taschentuch auf die Augen, wischte sich die feuchten Wangen ab und sagte: „Ich möchte nicht, dass er einsam und verlassen in den Bergen oder draußen in der Wildnis umkommt, nur das.“

      „Sag so was nicht, Mutter!“

      „Was wirst du ihm erst nach meinem Tode antun?“

      Sie fing an zu schluchzen. Ich stand auf, drückte ihr ein Glas Wasser in die Hand und half ihr, sich aufzusetzen. Sie nahm einen Schluck und lehnte sich gegen die Rückenpolster. Ihr Schweigen konnte einen umbringen. Sie schaute einen nur an und zwinkerte mit den Augen. Man wusste nicht, sollte man bleiben oder gehen. Doch in ihren letzten Tagen war sie nicht mehr so rastlos wie früher. Nachdem nun fast ein Jahr verstrichen war, hatte sie das Unheil vergessen, hatte sich allmählich abgefunden.

      Auch hatte sie weder die Kraft „Was hast du mit ihm angestellt, du Lump?“, zu brüllen noch die, sich zu widersetzen.

      „Ich hab ihn doch nicht gehasst, Mutter“, sagte ich.

      Sie jammerte, schlug sich mit der Faust an die Brust; stets hingen Tränen an ihren Wangen oder standen ihr in den Augen.

      „Gott möge dich bestrafen!“, sagte sie.

      „Fluch nicht, Mutter!“, beschwor ich sie.

      “Wie sollte ich nicht fluchen, du Gottloser. Kann es mit dir ein gutes Ende nehmen? Du ...“

      Nach und nach verschwand diese Trübsal verbreitende Stimmung, und als ich eines Tages mit Aidin aus der Karawanserei zurückkam, hatte sie für uns wunderbare gefüllte Weinblätter zubereitet. Wir aßen, und ich erzählte von einer Reise nach Astara*. Ich meinte, dass es nicht schlecht wäre, wenn Aidin und ich mal zusammen dorthin führen, um den Anblick der dichten Wälder zu genießen. Ich erzählte, dass die Wege dort von Brombeerhecken gesäumt seien; das Meer sei so klar, dass man bis zum Grund sehen könne, und dort gebe es eine neunzigjährige Jungfer, die Aidins Frau würde, wenn er sich nur etwas besser benähme. Aidin legte sich dann schwindlig und müde nieder. Mutter half mir, ihn in sein Souterrainzimmer zu schaffen.

      „Aidin“, fragte sie, „möchtest du wieder dein früheres Zimmer haben, zusammen mit Urhan?“

      „Was habt ihr da wieder ausgeheckt?“, meinte er nur.

      Wir legten ihn aufs Bett.

      Im Treppenhaus sagte Mutter: „Wenn er bloß nicht mehr erwachte. Ich kann ihn so nicht mehr sehen. All diese Würde, diese Vornehmheit, seine Güte, wo ist das nur geblieben?“ Wieder weinte sie und zog sich an den Stäben des Geländers die Treppe hinauf.

      „Mutter“, sagte ich, „warum quälst du dich so? Glaubst du denn, dass er leidet? Bei Gott, er ist der zufriedenste Mensch auf der ganzen Welt. Er hat keinen Kummer und keine Sorgen, keine Tratten und keine Wechselschecks. Der hat’s doch gut.“

      Sie ging zwei Stufen vor mir her. Doch als ich anfing zu lachen, drehte sie sich plötzlich um und haute mir eine runter, dass die Funken sprühten.

      „Du Lump, über wen machst du dich lustig?“

      Kalt und trocken, wie ein Befehl des Vaters, klang ihre Stimme. Mir schien, als ob die Wände Risse bekämen, Risse, die hinauf bis zur Decke liefen. Die ersten Anzeichen gehen bis in meine Kindheit zurück. Nach Aidas Tod ging unser Leben wie eine Lawine den Abhang zum Tal des Todes nieder, und keiner konnte oder wollte sie aufhalten. Es scheint mir von Kind an bestimmt zu sein, diesen heimtückischen, unverständigen Bruder auf den Rücken zu nehmen und ihn eine enge Passstraße hinauf zu schleppen. Doch er hat immer so getan, als wäre er völlig anspruchslos, und damit hat er nicht nur mich, sondern auch Vater zugrunde gerichtet.

      Er ist an mein Blechauto gegangen, hat es ausgeweidet; nichts war ihm unmöglich, über alle machte er sich lustig. Und ich konnte es Vater nicht klarmachen, konnte es Mutter nicht klarmachen, dass sie ihm endlich Einhalt gebieten sollten. Was blieb mir da anderes übrig, als den Kopf gegen die Wand zu schlagen, so lange zu schlagen und zu brüllen, bis sich endlich einer um mich kümmerte? Eines Tages hatte er mein Fahrrad aus der Mauernische herausgeholt und fuhr um das Wasserbecken herum. Er drehte seine Runden so schnell, dass einem ganz schwindlig wurde. Wie einer Biene, die von einem lnsektenspray getroffen wurde. War es vielleicht meine Schuld, dass ihm Vater kein Fahrrad kaufte?

      Von der Veranda brüllte ich zu ihm runter: „Steig von meinem Rad ab!“

      Doch er drehte seine Runden nur noch schneller und lachte laut. Ich lief in den Hof, setzte mich in eine Ecke und schlug den Kopf so lange auf den Boden, bis ich ganz entkräftet zusammenbrach.

      Vater saß auf der Veranda und aß Wassermelone. Bis ich meinen Kopf auf den Boden schlug, hatte er sich nicht gerührt, als aber mein Gesicht blutüberströmt war, kam er herunter, packte Aidin und schlug ihm so ins Genick, dass er drei Tage lang den Kopf nicht bewegen konnte. Mutter verfluchte uns, mich und Vater.

      Diese liebevolle Mutter, deren Zuneigung ganz und gar Aidin galt, nicht ein einziges Mal hat sie gesagt: „Mein Urhan.“

      Tagsüber schickte sie uns raus, und wir durften uns in der Nähe


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