Letzte Tage. Matthias Eckoldt

Letzte Tage - Matthias Eckoldt


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musste, bog er das Heft um und ließ die Seiten immer wieder an seinem Daumen entlangschnipsen. Einfach so, um seine linke Hand zu beschäftigen. Nach und nach aber irrten seine Gedanken von Gewichten, Medizinbällen, Zirkeltraining und Ausdauerläufen ab und bissen sich am Tagebuch fest. Er hielt es für Zeitverschwendung, abends noch einmal zu resümieren, was einem am Tage so alles widerfahren war. Er hatte es doch erlebt, warum sollte er es noch einmal aufwärmen? Das Wichtige beschäftigte ihn ohnehin weiter, alles andere konnte ihm gestohlen bleiben. War das bei Irina anders? Sicherlich, sonst würde sie ja nicht Heft um Heft vollschreiben. Notierte sie, was sie eingekauft hatte oder wie viel Strom sie verbraucht hatten oder welche Probleme sie mit ihrem Chef in der Modefabrik hatte, oder was? Er guckte hinein. Da war von Roland die Rede. Toni kannte keinen Roland. Ihr Chef war es jedenfalls nicht, der hieß anders. Klaus oder Thomas, aber nicht Roland. Sie war mit ihm tanzen. Charmant soll er sein. Wie schön, dachte Toni! Er wollte das Heft zuklappen, weiteressen und den Trainingsplan schreiben, doch seine Augen flogen so schnell über die Zeilen, dass er schon wieder umblättern musste. Roland, Roland, Roland! Sie waren spazieren. Er kannte sich in der Natur aus, in der Literatur, ja selbst in der Malerei. War ja ein richtiges Genie, dieser Roland! Und noch eine Seite: Roland verstand Irina so gut, mit ihm konnte sie über alles reden. Schön, dann hätte Toni ja endlich Ruhe vor ihren ständigen Fragereien! Er schloss das Heft, aber es sperrte sich genau an den Seiten, die er gelesen hatte, wieder auf. Toni drückte und faltete an dem Heft herum, doch erst als er ein paar Mal mit der Faust draufschlug, kam es wieder in Form.

      »Roland!«, höhnte Toni, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Ob er denn auch noch was vom Sport verstand? Vom Boxen sogar? Er lachte abfällig und machte sich daran, den durchschnittlichen Eiweißbedarf für einen Fliegengewichtler in der Aufbauphase zu errechnen. Als er die Zahlen in seinen Taschenrechner eingeben wollte, brannte es plötzlich in seinem Unterleib. Anstelle der Ziffern sah er ROLAND auf dem Display. Toni schüttelte sich. Fühlte sich so Eifersucht an? Aber er doch nicht! Er hatte einen Kampf mit gebrochener Mittelhand zu Ende gebracht, war mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert worden, hatte sich die Augenbraue ohne Betäubung nähen lassen. Da würde ihn doch diese Pfeife nicht umhauen! Roland, dieses Weichei, das sich an verheiratete Frauen ranmachte, während der Mann unterwegs war. Dem würde er seinen Charme aus dem Gesicht prügeln. Verdammt! Er war also doch eifersüchtig. Aber warum? Es war schließlich nichts passiert. Irina hatte sich ein paar Mal mit diesem Typen getroffen, zum Spazieren, zum Tanzen, vielleicht waren sie auch noch durch ein paar Museen gelatscht. Aber weiter waren sie nicht gegangen! Er konnte froh sein, dass Irina jemanden gefunden hatte für all die Dinge, für die ihm seine Zeit ohnehin zu schade war. Also bitte!

      Toni sah wieder auf seine Berechnungen und tippte Zahlen in seinen Rechner. Von der letzten Acht rutschte er auf die Neun und musste alles wieder löschen. Warum, fragte er sich, als auf dem Display wieder die Null stand, warum wähnte er sich eigentlich so sicher, dass nichts weiter passiert war? Wenn man sich so gut verstand? Hatten sie an der Bar gesessen, vertraut miteinander gelacht und ein Glas zu viel getrunken? Dann, beim Tanzen die langsame Runde. Hatte sie ihn vielleicht sogar mit hierher genommen, hatte dieser Typ in seinem Bett gelegen? Toni schloss die Wohnungstür ab und ließ den Schlüssel von innen stecken, damit ihn seine Frau nicht überraschte. Ins Museum oder sonst wohin konnte sie mit jedem gehen, aber … Er verbot sich weiterzudenken.

      Toni blätterte das Tagebuch flüchtig durch. Seine Augen suchten die Seiten nach Reizworten wie Bett, Kuss, zärtlich, Haut, Morgen, ab. Nichts. Dann musste er halt alles noch einmal Wort für Wort lesen, doch auch jetzt fand er keinen Hinweis darauf, dass Irina ihn … Er scheute sich davor, dieses Wort zu gebrauchen.

      Erst hatte er vorgehabt, Irina zur Rede zu stellen. Aber das konnte er nicht, denn dann hätte er zugeben müssen, dass er ihr Tagebuch gelesen hatte. Er, der harte Boxer, spionierte seiner Frau hinterher! Das ging einfach nicht. Schließlich entschied er sich dafür, Irina im Bett zu erwarten. Als sie ihn mit leisem Lächeln in sich aufnahm, war er überzeugt, dass sie ihm treu geblieben war. Zwar hatte er sie verloren. Durch die Sache mit dem Kind, durch die Sache mit dem Trainerschein, durch seine Engstirnigkeit, sein Desinteresse, seine Unlust, sich zu amüsieren, und natürlich durch die Sache mit dem Saufen. Aber dennoch war sie seine Frau, die bei ihm bleiben und ihn nicht betrügen würde. Ihre Haare öffnete sie nur für ihn. Wie Toni es liebte, wenn sich die dunklen Locken auf ihre nackte Haut legten!

      Am nächsten Morgen konnte Toni in aller Ruhe seinen Trainingsplan schreiben. Von nun an ließ er sich wieder des Öfteren von der Treue seiner Frau überzeugen. Bis heute. Schlafen allerdings mochte er lieber in seiner Höhle.

      Toni setzte sich an seinen Schreibtisch und schob den Computerbildschirm vorsichtig gegen den Papierstapel. Als der Behälter mit den Stiften runterkrachte, wartete er kurz, dann schob er den Monitor weiter, bis auch die Leselampe ins Straucheln kam. Schließlich flog noch ein Stapel Videokassetten hinterher. Wie einfach es gewesen wäre, die Sachen wegzuräumen, aber er konnte das gerade nicht. Hatte er noch nie gekonnt. Als Jugendlicher hatte er oft tagelang auf den frischen Hemden gesessen, die ihm seine Mutter über den Stuhl gelegt hatte. Nicht dass er sich wohl fühlte, als er sah, wie der gebügelte Stoff zerknitterte, aber es standen so dringende Erledigungen an, dass ihm die Zeit fehlte, die Hemden in den Schrank zu hängen. Alles war wichtiger in diesem Moment, selbst das dösige Herumlungern, in das plötzlich eine Idee einschießen konnte. Toni hatte etwas erfinden wollen, das alle Menschen benutzen würden. Einfach und nützlich wie ein Dosenöffner. Wie toll es sein musste, wenn alle Menschen auf der Welt andauernd mit Dingen hantierten, die man sich ausgedacht hatte. Toni erfand schließlich einen mechanischen Flaschenkastenstapler. Wenn man an einem Strick zog, hob der Kasten ab, und man konnte einen anderen drunterstellen. Seine Mutter war von der Erfindung ohnehin nicht überzeugt, aber als die gesamte Konstruktion aus der Wand riss und die Flaschen explodierten, da verwünschte sie ihren Sohn. Während sie das Cola-Bier-Gemisch aufwischte, verbot sie ihm, über weitere Erfindungen auch nur nachzudenken. Von nun an sollte er seine überschüssigen Energien beim Sport verbrennen.

      Toni legte den Aufhebungsvertrag auf die Glasplatte. Es ging um eine »für beide Seiten einvernehmliche Lösung aller Rechte und Pflichten« zwischen ihm und seinem Manager. Zum nächsten Tag. Vierundzwanzig Uhr. Verbunden mit dem Verzicht auf jegliche Sonderzahlungen wie Abfindungen, Provisionen oder Aufwandsentschädigungen. Toni brauchte nur zu unterschreiben, und er wäre alle Sorgen los. Er erinnerte sich an das kranke Pferd aus einer Kindergeschichte. Die Stelle, wo das Tier besessen war von der Idee, einfach über den Zaun der Galopprennbahn ins Moor zu springen, hatte ihn jedes Mal erregt. Alles Leid hätte dann ein Ende, hieß es da. Damals konnte sich Toni nicht erklären, was das Pferd eigentlich im Moor wollte und warum es gerade dort, wo seine dünnen Beine rasch im Morast versinken würden, seine Schmerzen loswerden sollte. Aber er hatte nie einen Erwachsenen danach gefragt. Es war so wunderbar gruselig, wie das Pferd mit dem Gedanken spielte und doch nie sprang.

      »Sittenwidrig!«, hatte Toni seinem Manager geantwortet und sich zugleich über den Klang dieses Wortes gewundert.

      »Was? Was haben Sie gesagt?«

      »Sittenwidrig! Die Sache, die Sie da vorschlagen, ist sittenwidrig.« Toni schaute Bornemeyer an. Ein kleiner Mann mit rundem Gesicht, weißgrauen Haarstoppeln und merkwürdig spitzem Bauch. Er lachte, dass sein Kaffee Wellen schlug: »Sittenwidrig? Das ist ja ein dicker Hund!« Seine Augen blitzten. »Falls Sie es noch nicht verstanden haben, Toni. Es geht hier ums Geschäft. Und das Geschäft kennt nur eine einzige Sitte. Nämlich die, dass es immer weitergehen muss!«

      »Aber nicht gegen das Wohl meiner Boxer.«

      »Falsch! Ganz falsch!« Bornemeyer stürzte seinen Kaffee hinunter und redete weiter, bevor er ihn ganz getrunken hatte. »Toni! Toni! Toni! In unserem Geschäft geht es gerade nicht um die Boxer, sondern um das Geschäft! Verdammt! Deswegen heißt es auch nicht zum Wohle der Boxer, sondern zum Wohl des Geschäfts. Unsere Kämpfe finden nicht vor dreißig Leuten auf dem Marktplatz statt. Wir schreiben das Jahr neunzehnhundertfünfundneunzig! Wir boxen im Fernsehen. Beim letzten Kampf wollten fünf Komma acht Millionen Leute Alex sehen. Die Quote lag gleich hinter der Tageschau, Mann. Was erzählen Sie da von Sittenwidrigkeit?« Bornemeyer baute sich direkt vor Toni auf: »Wo Ihre Schecks herkommen, haben Sie noch nie gefragt!«

      Toni zuckte


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